Essay
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Nicht mehr ein Tier unter anderen. Wo die Kunst das Leben sucht / keen on magazine

Tiere sehen wir meistens auf dem Teller. Deshalb sind Pablo Picasso und John Berger so traurig, und deshalb suchen Künstler wie Pierre Huyghe das wirklich wahre Leben bei den Tieren.

Bei posthumanen Körpern denkt man zuerst an technisch aufgemotzte, mit Prothesen versehene Menschenkörper. An Cyborgs, an Biohacks. Wenn Posthumanismus aber bedeutet, dass der Mensch nicht mehr ein Tier unter anderen sein soll, lässt er sich nicht ohne Tiere denken. Denn da liegt die Außengrenze menschlicher Erfahrung. Wir können uns einfach nicht vorstellen, wie es ist ein Tier zu sein. Trotzdem versuchen Künstler es immer wieder. Eine Vermutung hält sich: Da, wo menschliches Leben aufhört, fängt das richtige Leben an.

Tiere waren wahrscheinlich das erste Sujet der Kunst überhaupt. Das bedarf einer Erklärung: 1940 entdeckten vier Jungen in Südfrankreich hinter Büschen einen Höhleneingang. Dahinter die Höhle von Lascaux, darin Malereien aus dem Paläolithikum: Pferde, Bisons, in Herden und allein, auf der Flucht und einfach so. Tiere, schrieb der Philosoph John Dewey ein paar Jahre zuvor, seien die Erinnerung an eine Einheit, die mit der Moderne verloren gegangen ist. Darauf müsse man sich beziehen, wollte man ästhetisches Erleben verstehen. „Wir haben nichts dazugelernt“, soll Picasso traurig gesagt haben, als er die Malereien gesehen hat.

Warum sollte uns der Anblick von Tieren traurig machen? Der Kunstkritiker John Berger hatte in den 1970ern eine Idee. Die Geschichte von Tieren und Menschen ist eine Erzählung der Entfernung voneinander. Denn seit der Industrialisierung sind die Tiere aus dem Leben der Menschen verschwunden. Dampfmaschinen ersetzen Pferde, Massentierhaltung ersetzt Bauernhöfe. Die Nähe, den Höhlenmenschen von Lascaux vielleicht noch vertraut, ist ein Relikt der vormodernen Vergangenheit. Tiere im Zoo und Wildtiere, die sich in die Stadt verirren, sind Zeugen des eigenen Verschwindens. Darum, sagt Berger, sehen wir uns Tiere im Zoo an, und darum sind wir so traurig darüber. Diese Trauer gipfelte in einem Gefühl von Schuld, als Mitte der 1990er der Rinderwahn für eine kollektive Panik sorgte. Veterinärsvertreter sprachen von Kannibalismus, denn den Rindern wurden die eigenen Artgenossen verfüttert. Das an den Rand des Sichtbaren verdrängte Nutzvieh kehrte zurück — als Body Horror auf dem Teller.

Aber vergessen sind die düsteren Tage der Fortschrittsskepsis, zumindest in bestimmten Kreisen. Der Anbruch eines neuen Zeitalters steht bevor, glaubt man den Innovatoren und Selbstoptimierern aus dem Silicon Valley. Die haben den Begriff Posthumanismus von postmodernen Akademikern entliehen. Und sie trauern nicht um die verlorene Einheit von Mensch und Tier, und sie haben auch keine Angst vor Epidemien. Ray Kurzweil, Erfinder und Director of Engineering bei Google, ist einer der Vordenker dieser Bewegung. Er plant, so lange zu leben, bis sein Geist mitsamt allen Erinnerungen auf einen Computer geladen werden kann — um ihn schließlich virtuell unsterblich zu machen. Selbstoptimierer, hochgetunt mit mikrodosiertem LSD zum Frühstück, Fitness-Apps oder Nahrungsergänzungsmitteln — die Prothesengötter sind sich einig: Der Mensch soll seine Evolution selbst in die Hand nehmen.

Die Kunstwelt springt auf dieses Versprechen einer realisierbaren Utopie an. Bilder von Cyborgs bevölkern die Galerien. Es gibt aber auch eine andere Seite des Posthumanismus, jenseits der Technikbegeisterung. Dafür stehen zum Beispiel die Experimente des Künstlerduos Art Orienté Objet. Wenn Marion Laval-Jeantet davon erzählt, spricht sie mit Bedacht: „May the Horse Live in me“ von 2011 sei das letzte in einer langen Reihe von dummen Experimenten gewesen. Der alte Body Horror ist wieder da: das Tier im Menschen, zum Tier werden. Sie sucht die Destabilisierung von Identität. In vorangegangenen Performances haben Laval-Jeantet und ihr Partner Benoît Mangin versucht, mit Katzen, Rehen und Giraffen zu kommunizieren. Der Schlüssel dazu ist, glaubt man dem Duo, Imitation. Man muss nur aussehen und sich bewegen wie das Tier, schon erwidert die andere Spezies den Blick.

Mit dem Titel „May the Horse live in me“ ist eigentlich schon alles gesagt, zumindest fast. Denn ein integraler Bestandteil der Performance war die Transfusion von Pferdeblut. Es war schwer, einen Ort und einen Kooperationspartner für „May the Horse Live in me“ zu finden. Schließlich wurde die Performance in Ljubljana gezeigt, in der Galerie Kapelica, weil sich in Frankreich keine Institution dazu bereit erklärte. Dem Künstlerduo ging es darum, sich anders als menschlich zu fühlen, also um die Frage: Wie ist es, ein Pferd zu sein?

Die eigentliche Performance dauerte nur eine Stunde, wie ein unangenehmer Arzttermin. Dazu passt auch das Setting. Ein kahler Raum mit Betonboden, ein Bett und andere Krankenhausmöbel stehen herum. Das Pferd wird hereingeführt, Benoît Mangin (im Laborkittel) injiziert Laval-Jeantet Pferdeblut, danach bekommt sie Pferdebeinprothesen, um mit dem Tier, nunja, auf Augenhöhe kommunizieren zu können. Und  vielleicht auch, um ihm so etwas wie Individualität zu geben.

Wenn Marion Laval-Jeantet über das Danach spricht, klingt sie wie jemand, der einen Rausch beschreibt, mit Fieber und Rastlosigkeit. „Als würden Pferde nur vier Stunden in der Nacht schlafen“, sagt sie. Sie klingt wie Patientin und behandelnde Ärztin zugleich, wenn sie davon erzählt, und wir müssen ihr glauben, dass sie durch den Spiegel gegangen ist, dass sie weiß, wie es ist, ein Pferd zu sein. Sie hatte Angst, war sich aber gleichzeitig ihrer Stärke bewusst. Das, so behauptet sie, sei ein Gefühl, das uns Primaten ganz fremd ist.

Unscheinbar: der Weberkegel, eine Meeresschnecke. Hier zu sehen in Pierre Huyghes „After ALife Ahead“. Foto: Ole Rindal

Fast so, als ginge das Leben erst da los, wo es eben ganz fremd wird. Den größten Vorstoß in diese Richtung unternahm Pierre Huyghe bei den diesjährigen Skulpturprojekten in Münster. Damit zeigt er, was alles geht, wenn das Budget und der Raum groß genug sind. In „After Life Ahead“ in der verlassenen Eissporthalle am Stadtrand stellt er sich eine Welt ohne Menschen vor, in deren Mitte wie ein Souverän eine unscheinbare, aber hochgiftige Meeresschnecke in einem Aquarium thront. Das Muster ihrer Schale dient als Partitur für das Öffnen und Schließen der Deckenluken. Natur ist, was passiert, wenn der Mensch nicht eingreift, behauptet Huyghes. So sähe es aus, wenn eine Schnecke, Bienen und Pfauen das Kommando in Caspar David Friedrichs Eismeer übernähmen.

Tiere waren nicht nur das erste Sujet der Kunst. Manche Künstler stellen sie sich auch als das letzte Sujet der Kunst vor, oder als ihre Außenbegrenzung. Entweder, um das eigentlich Unmögliche zu schaffen — sich anders als menschlich zu fühlen und damit einem melancholischen Wunsch folgend, die verlorene Einheit wiederherzustellen. Oder um eine alte Eissporthalle den Tieren zu übergeben. Die wird übrigens ohnehin bald abgerissen.

Der Text ist zuerst auf Englisch in keen on erschienen, hier entlang geht es zur Ausgabe mit dem Thema „Posthuman Bodies“.

Screenshot: keen on magazine

Titelbild: Pierre Huyghe, „After ALife Ahead“, Foto: Ole Rindal

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