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Der Bleistift als Waffe

Reportagezeichner stellen sowohl flüchtige, historische Ereignisse dar, wie Kriegsgeschehnisse, in Form von Karikaturen, als auch fiktionale Illustrationen, die meistens in Tageszeitungen, Wochenblättern oder monatlich veröffentlichten Magazinen erscheinen. Im Heidelberger Kunstverein waren aktuell Reportagezeichnungen von 25 Künstlern in der Ausstellung „Vogelmen Diaries - Das Melton Prior Institut präsentiert ‚Special Artists'“ zu sehen.

Das in Düsseldorf ansässige Melton Prior Institut beschäftigt sich seit 2005 mit dokumentarischen Zeichnungen, Illustrationen sowie der Geschichte und Figur des Reportagezeichners, dem sogenannten „Special Artist“, in seiner goldenen Ära im 19. Jahrhundert und heute. Das zentrale Anliegen des Instituts ist es, das Wissen über das künstlerische Selbstverständnis der „Special Artists“ und deren multiple Rolle als bildende Künstler, Pressejournalisten, kritische Karikaturisten, neugierigen Ethnologen und hingebungsvolle Schreiber zu fördern. Trotz enormer Produktivität und öffentlichen Wirkens wurde der Figur des Pressezeichners jedoch in der Kunstgeschichte nur wenig Beachtung geschenkt. Dieser historiografischen Schieflage will der Heidelberger Kunstverein nun Abhilfe schaffen: Er zeigt, dass der „Special Artist“, im Volksmund auch „Our Artist“ genannt, eine Vielfalt von kritischen, künstlerischen und keineswegs bloß dekorativ-illustrativen Positionen vertrat und bis heute vertritt. Das kuratorische Konzept dieser Schau fokussiert zudem auf die zentrale Querverbindung zwischen dem Impuls zur künstlerischen Fiktion und der Aufgabe historischer Dokumentation, welche die Reportagekünstler meistern mussten. Diese multiplen Rollen der Reportagezeichner und das Verständnis der Künstler als einflussreiche gesellschaftspolitische Mittler werden auch in der Ausstellungsinszenierung zeitgenössischer Künstler im Kunstverein wieder aufgegriffen.

Grafiker, Schreiber, Kritiker – die Vielseitigkeit der „Special Artists“

Die Arbeit „Let us prey“ von Thomas Nast (1840-1902), welche am 23. September 1871 im Harper’s Weekly erschienen ist, wird in der großen Halle des Kunstvereins als Eyecatcher der Ausstellung präsentiert. Zwei vergrößerte Versionen seiner Grafiken flankieren den Hauptraum der Ausstellung, wodurch ein thematischer und figurativer Rahmen geschaffen wird. Ihre spiegelhafte Gegenüberstellung reflektiert nicht nur ihren gemeinsamen Inhalt, sondern agiert zudem als Mittler in Bezug auf weitere Werke, die in der lichtdurchfluteten Halle des Kunstvereins ausgestellt sind.

Der New Yorker Bürgermeister Tweed als Aasgeier in Thomas Nasts Karikatur „Let us Prey“ von 1871. (Photo: Markus Kaesler)

Der in Landau geborene Künstler wird an der rechten Seitenwand als prominenter „Special Artist“ besonders in Szene gesetzt. Der Revolutionsflüchtling emigriert 1849 nach Amerika und entwickelt sich dort zur Gallionsfigur der Karikatur. Er gilt als Erfinder der Figur des Santa Claus, der zum Markenzeichen der Coca-Cola Werbung wurde. Des Weiteren hat Nast die populäre amerikanische Figur Uncle Sam entworfen, die eine Personifikation der Vereinigten Staaten darstellt. Seine Arbeiten sind von hoher politischer Aktualität geprägt. So greift er Themen wie politische Korruption oder Inflation auf.

Die beiden, mehrere Meter hohen, imposanten Reproduktionen der Karikaturen von Nast, stellen den New Yorker Bürgermeisters Tweed als geflügelten Aasgeier dar und prangern seine korrupte Politik der 1850er Jahre bildnerisch an. Der Werktitel „Let us prey“ bedeutet übersetzt „Lasst uns Beute machen“, im Kontext der Entstehungszeit bezieht sich Nast also auf die ausbeutende Politik des amerikanischen Politikers und funktioniert den allgemein bekannten Ausspruch „Let us pray“ („Lasst uns beten“) ironisierend um. Nast gilt als politisch einflussreichster Protagonist der Illustrationsgeschichte. Denn er setzt den Bleistift als Waffe ein und trotz seines stark allegorischen Stils werden seine Arbeiten vom Volk verstanden. Insgesamt hatte Nast eine bewegte Lebensgeschichte. Neben seiner Arbeit als Karikaturist war er Politiker und Botschafter der USA in Ecuador.

Ferner richtet sich der Blick des Besuchers auf eine Reihe von Vitrinen und Schaukästen, die die Ausstellungshalle entlang der Längsachse teilen. Hier ist unter anderem der amerikanische Illustrator Robert Weaver (1924-1994) - ein Zeitgenosse der Pop-Art-Künstler Robert Rauschenberg und Andy Warhol - mit Abbildungen aus dem Life Magazine und dem stark sozialistisch geprägten Fortune Magazine vertreten. Mit seinem dokumentarischen Illustrationsstil, der Reportageelemente beinhaltet, setzt Weaver in der Illustrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts Meilensteine. Dabei verzichtet er auf eine geschönte Ästhetik, wie sie andere Illustratoren pflegen, und bildet die Realität auf neuartige Weise ab. Während die alte Garde an fiktiven Szenen mit attraktiven Menschen festhält, beschäftigt sich Weaver mit einem aufstrebenden Reportagestil. New Journalism zeichnet sich als Trend ab, der Formen der Berichterstattung und Literatur verbindet. Weaver gilt als einer der ersten, der den Illustrationsraum in mehrere Bildteile aufbricht und stets die Intention verfolgt, informativ zu sein. In seinem zweigeteilten Werk „A Pedestrian View / The Vogelmen Diary“ (1982) ergänzen sich die obere piktorale Ebene und die untere Textebene zu einer neuartigen Erzählstrategie. Das Bestreben, informativ zu sein, wird vor allem durch seine genaue Auffassungsgabe und seinen direkten und deutlichen Zeichnungsstil gefördert.

Halluzinogene Qualitäten

Textpassagen eines Traums und skizzenhafte Bilder: „Pedestrian View/The Vogelmen Diary“ von Robert Weaver. (Photo: Markus Kaesler)

Weaver gilt als ein weiterer zentraler Künstler der Ausstellung. Eines seiner Hauptwerke wird in der Ausstellung effektvoll in Szene gesetzt. Das Werk „Pedestrian View/The Vogelmen Diary“ (1982), das aus einer Serie von 51 Bildern besteht, liefert das Eponym der Ausstellung. Gleichzeitig bezieht sich das Bild der „Vogelmen“ auf die ambulanten und flüchtigen Aufzeichnungsweisen der „Special Artists“ und auf die halluzinogene Qualität der Illustrationen, welche oftmals im Grenzbereich zwischen Faktizität und Fantastik eingeordnet werden. Das Spätwerk wurde kuratorisch stimmig auf die himmelblau grundierten Wände der Empore installiert und verbindet sich so mit einem Blick in Vogelperspektive auf die anderen Räume des Kunstvereins. Die achtzehn ausgestellten Abbildungen sind in Leserichtung entlang der beiden Emporenwände aufgereiht. Der Betrachter wird eingeladen, den impressionistisch skizzenhaften und imaginativen malerischen Strips der Reihe nach zu folgen. Die von poetischen Textpassagen eines Traums begleiteten Bilder halten den Besucher an, die flüchtige Traumsequenz des damals nahezu erblindeten Malers zu verfolgen. Auf der Empore sind neben dem beeindruckenden malerischen Werk fotografische Arbeiten von Saul Leiter zu sehen, der mit seinen „Straßenfotografien“ thematische Bezüge zu Weavers impressionistischen Momentaufnahmen herstellt. An dieser Stelle des Rundgangs schließt sich der Kreis zwischen subjektiver Verbildlichung und objektiver Darstellung konfliktreicher Gesellschaftszustände, der in vielen der historischen wie aktuellen Reportagezeichnungen zu sehen ist.

Erinnerungen an Kassel

Auf der Empore des Kunstvereins ist eine Art Zentrum der Ausstellung zu finden. Eine Assoziation ergibt sich hier zur Documenta 13. In diesem Bereich des Kunstvereins ist auf einem Bildschirm der Trailer der Ausstellung zu sehen und an einem Computer hat der Besucher Zugriff auf die Homepage des Melton Prior Instituts für weitere Recherche. Dieses letzte Element der Ausstellung ist von verschiedenen Standpunkten in der Halle zu sehen und lockt den Besucher durch dramatische Musik auf die Empore. Ein weiterer Bezug zur Documenta entsteht durch die vier kleinformatige Aquarelle von Adolf Hitler, welche im Untergeschoss des Kunstvereins etwas versteckt präsentiert werden. Im Gegensatz zur Zurschaustellung, wie sie auf der d13 zu sehen war, wird der Diktator hier als Künstler in eine historische Reihe zeitnaher Kunstschaffender eingegliedert ohne seine politische Position besonders herauszuheben. Auf der d13 wurden vergleichsweise ausgewählte, persönliche Gegenstände von ihm, wie zum Beispiel ein Handtuch, im „Brain“ – dem Ausstellungszentrum der documenta – in Szene gesetzt.

Die Arbeiten von Saul Leiter, Stefan Heller, Susann Turcot und Theo de Feyter stellen den Part der Gegenwartskünstler aus der Sammlung Melton Prior dar und werden in den verschiedenen Räumlichkeiten im Ausstellungskonzept insgesamt gesondert und prominent positioniert.

Susann Turcot befasst sich in ihren achtzehn Kohlezeichnungen mit der gefährlichen Tätigkeit des Ölsandabbaus in Nordkanada. Sie sind in einem der dunklen Räume zu sehen. Für ihre Arbeit hat sie vierundzwanzig Porträts von betroffenen kanadischen Arbeitern angefertigt. Während des Produktionsprozesses dieser Bildnisse berichteten die Betroffenen von ihren Schicksalen, die Turcot letztendlich zu gesonderten Werken inspiriert haben, die im Heidelberger Kunstverein präsentiert werden. Ihre stark umweltpolitisch motivierten Arbeiten setzt sie zeichnerisch um und changiert dabei zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit.

Umweltpolitisch motivierte Arbeiten von Susan Turcot. (Photo: Markus Kaesler)

Der Nahostspezialist und Archäologe Theo de Feyter hingegen wählt eine strikt topografische Herangehensweise für das Sujet seiner Werke. Er dokumentiert in der horizontal angeordneten Bilderfolge den Weg zwischen seinem Studio und der Wohnung seiner Frau in Amsterdam. Der Niederländische Künstler zeichnet für diese Arbeit eine sogenannte „Luftlinie“, die durch die zwei geographische Orte begrenzt ist. Überall dort, wo diese einen Platz oder eine Straße kreuzt, zeichnet er an Ort und Stelle die urbane Umgebung, so dass der Blick der Zielrichtung folgt. De Feyter zeichnet und malt völlig sachlich - der Fokus der dokumentarischen Bilder liegt dabei auf urbanen Motiven, während Figuren im Hintergrund gehalten werden.

Theo de Feyter dokumentiert den Weg zu seinem Arbeitsplatz. (Markus Kaesler)

Die Erklärung des kuratorischen Vorgehens ist zunehmend unspezifisch gehalten und das Arrangement der Werke wirkt in der Halle und im Studio des Kunstvereins fragmentarisch aneinandergereiht. Aufklärende Erläuterungen oder Hilfestellungen, um das Ausstellungsprogramm zu erfassen, werden in der Haupthalle gegeben, jedoch knapp gehalten. Hier findet der Besucher einleitende Worte zu Nast und seinem Lehrer Theodor Kaufmann, sowie über Johann-Wolfgang Goethe als Kriegsreisenden, der bereits im späten 18. Jahrhundert die Literatur mit der dokumentierenden Kunst, in Form von Zeichnungen, verbindet. Informationen zu Techniken und Material der verschiedenen Arbeiten fehlen dennoch. Die Erschließung eines einzelnen Werkes scheint zwar leicht, eine autonome Interpretation der gesamten Ausstellung ist aber vergebens.

 

Der zugehörige Katalog von Robert Weavers Arbeit mit dem Titel „Pedestrian Views“ erscheint im Kelter Verlag und ist im Heidelberger Kunstverein erhältlich. Mehr Informationen auf www.meltonpriorinstitut.org/ .                                                             Diese Rezension ist in Kooperation mit der Übung „Die Kunst der Kunstkritik“ unter der Leitung von Franzika Koch M.A. im Karl-Jaspers-Zentrum entstanden.

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