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Aufgelesen 2016.9: Awkwardness in Autoreninterviews, Rückzug in den Garten und Peeping Toms

Unter dem Stichwort Aufgelesen versammeln wir Fundstücke aus dem Netz. Leseempfehlungen sowie Kurioses über Kunst und fern der Kunst findet hier seinen Platz.

Die guten Nachrichten zuerst: Christian Kracht hat einen neuen Roman geschrieben. Man hat ja schon fast befürchtet, dass ihm nach „Imperium“ die Lust dazu vergangen ist. Bloß: Ist das wirklich ein guter Roman geworden? Sicher hat Claudius Seidl im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Recht damit, die Grammatikunfälle im ersten Satz des Romans zu bemängeln. Aber trotzdem kommt er zu dem Schluss, dass das doch ein passables Buch geworden ist. Alle Besprechungen, die sich nicht ganz klar darüber sind, ob das nun ein gutes Buch geworden ist oder nicht, würde diesen Rahmen sprengen. Nur soviel:

Über Nazis zu sprechen, ohne Nachkriegsliteratur zu sein, das gelingt eben nur, wenn man Identitätsangebote, das A = A eines links-politisch-korrekten oder pegidesk-empörten Anrechts des Wirklichen auf die Sprache, konsequent verweigert…Stattdessen führen „Die Toten“ uns ins Geisterreich der Medien, vor allem der Fotografie und des Films.

Das schreibt Popliteratur-Experte Moritz Baßler in der TAZ und findet diesen Roman gelungen. Trotzdem, ein schales Gefühl bleibt. Das wird verstärkt durch die Lobhudelei von Denis Scheck, der zeigt, wie awkward ein Autoreninterview sein kann. Awkward ist daran vor allem die Behauptung, Krachts neuer Roman habe die gleiche Bedeutung für die Literatur, wie der Tonfilm fürs Kino. Man kann lange spekulieren, was Denis Scheck damit sagen möchte. Eine Möglichkeit: Die Sendung hat etwas mit „verkaufsrelevanter Literaturkritik“ zu tun – vermutet zumindest Jürgen Kaube in der FAZ.

Nur einer schreibt nicht über den neuen Kracht, sondern verkriecht sich lieber, wenn im Frühherbst der Kulturbetrieb wieder anläuft:

So vor den ersten anstehenden Arbeiten den Tag vertrödelnd, ziehe ich mich in einen Winkel des Gartens zurück, wo mich keiner auf der Welt sehen kann, der erste leise Regen des Herbsts kullert in kleinen Tropfen die Nasenspitze herunter, und ich denke wie das Camouflieren und Verbergen nach den Jahren des permanenten Net-Workings und dauernder Verfügbarkeit ein großer Wunsch und immer häufiger auch zur Praxis geworden ist. Rückzug ins Physische, ins Private, Paradoxe, Hauptsache es fängt mit P an und DRRRRRRRING, es reißt mich schrill klingelnd aus dem Nickerchen.

So verbringt Spike-Kolumnist Timo Feldhaus die letzten Tage des Sommers. Da geht es auch um Reichsbürger, Jacob Applebaum, Apple, aber vor allem: um den Rückzug in den eigenen Garten. Das klingt so sehr nach Biedermeier, dass man sich fragt, was eigentlich aus den fleißigen Digitalarbeitern in den Cafés geworden ist. Sie nannten es einmal Arbeit, und vermuteten die Ankunft einer neuen Ökonomie. Die ist jetzt da, und Timo Daum schaut sich für Das Filter an, was aus den Träumen von der digitalen Bohème geworden ist.

Übrigens ist das Zeitverschwenden im Internet eine oft unterschätzte Tätigkeit. Das behauptet zumindest der Lyriker Kenneth Goldsmith – und er muss es wissen, schließlich hat er das Internet einmal ausgedruckt. Wer in die Flimmerkiste schaut wird passiv, wer hingegen ins Browserfenster schaut, macht nie nur eine Sache gleichzeitig. Warum das Internet uns weder dumm oder oberflächlich macht und auch nicht die Realitätsferne befördert, lässt sich bei den L.A. Times nachlesen.

Teju Cole hat in einem Band Essays versammelt. Den gibt es seit kurzem auch in Deutschland, Titel: „Vertraute Dinge, Fremde Dinge“. Darin schreibt er über Fotografie, Reisen, Fremdsein. Und immer wieder auch über Musik. Es liegt nahe, dass er für The Quietus einmal seine Lieblingsplatten zusammenstellt. Darunter dieses Stück:

Im New Yorker hat Om Malik in die Zukunft geblickt und sagt: In the Future, We Will Photograph Everything and Look at Nothing, so die Überschrift. Darin hat sich der Fotograf Joshua Allen Harris Gedanken über den Begriff Fotograf gemacht:

In other words, “the term ‘photographer’ is changing,” he said. As a result, photos are less markers of memories than they are Web-browser bookmarks for our lives. And, just as with bookmarks, after a few months it becomes hard to find photos or even to navigate back to the points worth remembering. Google made hoarding bookmarks futile. Today we think of something, and then we Google it. Photos are evolving along the same path as well.

Weil die Nachbarn der neuen Tate Modern nicht wollen, dass ihnen alle Besucher der Aussichtsplattform in ihre Wohnzimmer gucken und Fotos davon machen, haben sie das Gespräch mit der Tate gesucht, berichtet Hyperallergic. Woher kommen nur all die Peeping Toms? Nun wurde zumindest ein Schild aufgestellt: “Please respect our neighbors’ privacy.” Mal sehen, wen das davon abhält, Fotos zu machen und sie auf Instagram zu posten.

Noch mehr schlechte Nachrichten zum Schluss: Der Gestalten Verlag ist insolvent. Frieze d/e wird eingestellt. Und Maurizio Cattelan hat ein goldenes Klo ins Guggenheim Museum gestellt – zur Benutzung.

Ach, hier doch noch etwas Schönes: Dirk von Lowtzow hat zusammen mit den Beatsteaks Musik gemacht. Und jetzt alle ab ins Kino „Tschick“ gucken.

Titelbild: Denis Scheck und Christian Kracht in Los Angeles. Still aus der Sendung Druckfrisch.

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