Kunsthistoriker im Gespräch
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Von existentieller Erregung beim Sprechen über Kunst

Warum interessieren sich Linguisten für Kunst?

Linguisten sind ganz normale Menschen, die gerne einmal ins Museum gehen und ästhetische Ansprüche an ihre Umgebung haben. Wenn sie wie in meinem Fall – zumindest im Studium – auch Kunsthistoriker sind, stellen sie fest, dass über Sprache im Bereich der Kunst relativ selten gearbeitet wurde. Die entscheidende Frage ist, inwieweit die Art und Weise über Kunst zu sprechen das Gespräch von Fachleuten und Laien beeinflusst. Wie Kunst kategorisiert wird, wie Bilder beschrieben und in verschiedenen Fachlichkeitsgraden in erzählerische Zusammenhänge eingebaut werden, hat mich schon als Student interessiert. Mit meiner Dissertation war ich aber nicht der erste Sprachwissenschaftler, der sich mit dem Thema befasst hat; zeitgleich mit mir hat Dina Kashapova aus Braunschweig ein ähnliches Projekt begonnen. Außerdem hat sich unter anderem Heiko Hausendorf, Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Zürich, maßgeblich mit Kunstkommunikation beschäftigt. Wir sind ein kleines Grüppchen von Linguisten, das sich mit der Kunstkommunikation beschäftigt. Wir wachsen und gedeihen aber ganz gut.

Es muss doch etwas dran sein an der zeitgenössischen Kunst

Unterscheidet sich das Sprechen über Kunst von anderen Dialogformen?

Gute Frage. Ja, durch das Thema. Das Thema des Sprechens über Kunst ist die Kunst und das Thema des Sprechens über Waschmaschinen ist die Waschmaschine. Natürlich diktiert das Thema schon in der Wahl der Wörter, die wir benutzen, die Sprache. Sie entscheiden sich in der Nachfolge eines Wortes schon für bestimmte andere Wörter. So kommen wir von der Ebene der Lexik, die unmittelbar mit dem Thema zusammenhängt, auf die Ebene der Syntax und dann auf die Ebene der Texte, oder die sprachliche Interaktion. Das heißt, wenn ich mir ein bestimmtes Thema aussuche, bin ich gezwungen bestimmte Wörter zu benutzen, dann bin ich gezwungen bestimmte Konstruktionen daran anzuschließen und dadurch wird der Text determiniert.

Außer dieser recht formalistischen Antwort gibt es noch eine ganze Reihe anderer, soziopragmatischer Kriterien, die man ansetzen kann. Wie gehen etwa Menschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen miteinander um, wenn sie über Kunst sprechen? Heiko Hausendorf hat in seinem Aufsatz „Die Kunst des Sprechens über Kunst – Zur Linguistik einer riskanten Kommunikationspraxis“ ein Gespräch aus dem Film „Manhattan“ (1979) von und mit Woody Allen, das den Nagel wirklich auf den Kopf trifft, zitiert:

„Isaac: Wir waren schon unten in der Castelli-Galerie und haben uns die Fotos angesehen – (beeindruckt) Unglaublich. Absolut unglaublich.
Tracy: Ja, ungeheuer.
Mary: (ungläubig, skeptisch) Die gefallen Ihnen also?
Isaac: Sie – äh – sie meinen die Fotografien da unten?
Mary: Ja, die da unten.
Isaac: (nachdrücklich) Klasse, absolute Klasse. Und Ihnen?
Mary: (Kopfschütteln, Schulterzucken) Nein, das kann ich leider nicht sagen. Für mich sind sie nur ein Plagiat – ein armseliger Abklatsch von Diane Arbus, aber ohne ihren Witz.
Isaac: Ach – äh – tatsächlich? Selbstverständlich gefielen sie mir nicht so wie die (abschätzig) Plexiglas-Skulpturen, aber ich meine, das war doch…
Mary: (stirnrunzelnd) … Ihnen gefiel dieses Plexiglas?
Isaac: Gefielen Ihnen die Plexiglas-Skulpturen auch nicht?
Mary: Aha, sehr interessant, ähm … (Kopfschütteln)
Isaac: Jedenfalls immer noch besser als diese – diese (belustigt) Stahlwürfel, die haben wir auch gesehen …
Tracy: Ja.
Mary: … also die fand ich (bewundernd) grandios. Einfach grandios.
Isaac: (ungläubig, irritiert) Die Stahlwürfel?
Mary: Ja! Also für mich waren die unwahrscheinlich strukturell, ich meine, sie waren vollkommen integriert. (nachdrücklich) Sie hatten – ähm – so eine fantastisch negative Potenz. Alles andere fand ich einfach zum Kotzen!“1

Hier wird sehr deutlich, dass Kunst immer etwas mit Prestige zu tun hat – einerseits dem Prestige eines Kunstwerks in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, andererseits dem Prestige der Person, die sich mit dem Kunstwerk beschäftigt. Man ist besonders im Umgang mit moderner und zeitgenössischer Kunst einer ständigen Prüfungssituation sich selbst und anderen gegenüber unterworfen. Werde ich zum Beispiel Eduardo Chillida, der abstrakte plastische Arbeiten „Ein Haus für Goethe“ oder „Windkämme“ nennt, gerecht, wenn ich etwas darüber sagen muss? Es wird unglaublich viel Geld für Kunst bezahlt, viele intelligente Leute schreiben Bücher darüber, da muss doch etwas dran sein.

Diese Prüfungssituation stellt sich im Umgang mit Kunst bezogen auf die Art der Kunst oder die Kommunikationssituation immer und ganz unterschiedlich. Und dieser existenzielle Erregungszustand spielt eine große Rolle, wenn Menschen über Kunst reden und macht diesen Zusammenhang so interessant.

Eine existenzielle Erregung ist bei Waschmaschinen sicher nicht so sehr gegeben.

Doch, wenn die Waschmaschine kaputt geht und Sie zwei Kinder haben. Das ist mir einmal passiert.

Gefällt Ihnen das Bild?

Sie haben im vergangenen Semester mit der Heidelberger Literaturwissenschaftlerin Sandra Kluwe im Rahmen des Seminars „Bildende Kunst im Spiegel von Sprache und Literatur“ Umfragedaten zur Kunstkommunikation erhoben. Welche Idee steht dahinter und was zeichnete die Interviews der Studierenden aus?

Bereits im Sommersemester 2008 habe ich ein Seminar zur Soziolinguistik des Deutschen gegeben und hatte im Vorfeld überlegt, wie man das Thema der sprachlichen Variation auf möglichst vielen Ebenen der Sprache – etwa Lexik, Syntax und Morphologie der Gesprächsstruktur – empirisch in einer realisierbaren Feldstudie gemeinsam mit Studierenden untersuchen könnte. Gleichzeitig hielt der Romanistikprofessor Edgar Radtke bei uns einen Vortrag über seine Arbeit zur Sprachvariation in Süditalien. Er hat Probanden eine kurze Sequenz eines Charlie Chaplin-Stummfilms vorgespielt und gebeten, diese live zu kommentieren. So erhielt er Gesprächsbeiträge, die dieselbe thematische Sequenzierung aufweisen. An diesen konnte er beobachten, wie die Teilnehmer etwa bei der Wahl der Konjunktionen und der Lexik variieren und konnte sprachliche Variation geographisch beschreiben.

Die Minimalversion dieses Vorhabens war die Verwendung eines Bildes. Wir überlegten uns vorher sehr genau, welche Fragen wir den Passanten in der Heidelberger Altstadt stellen, so dass wir Antworten bekommen, die von der sequentiellen Gestalt im Hintergrund möglichst vergleichbar sind, auf der Oberfläche aber Unterschiede aufwiesen. Anschließend stellten wir uns rasterartig Passanten-Stereotypen vor, die wir ansprechen möchten, wir haben versucht unterschiedliche Sprechertypen ausfindig zu machen und haben deren sprachliche Varianz untersucht. Das war die Idee, die mit Kunst überhaupt nichts zu tun hatte. Gemeinsam mit den Studierenden einigten wir uns erstens auf das Bild „Die zerbrochene Säule“ von Frida Kahlo und zweitens auf drei Fragen beziehungsweise eine Aufforderung, die wir dazu stellen wollten.

„Beschreiben Sie bitte so genau wie möglich, was auf dem Bild zu sehen ist.“
„Was geht der Frau durch den Kopf?“
„Gefällt Ihnen das Bild?“

Unser Ziel war, mit den Fragen verschiedene Aussagen zu provozieren. Insgesamt sind so etwa 50 bis 60 ähnlich strukturierte Aufnahmen entstanden, die zum Teil transkribiert, beschrieben und in Bezug auf Variation, nicht auf Kunst, verglichen wurden. Es gab bei besagtem Kunstkommunikationsseminar oder etwa bei einem Wochenendseminar zur Genderforschung Gelegenheit, dieses Projekt wiederaufzunehmen, denn unsere Interviews zeitigten immer dann, wenn ein Mann und eine Frau zusammen geantwortet haben, sehr genderforschungsträchtige Ergebnisse.

Die Passanten bleiben beim Beschreiben an den wohlgeformten Brüsten, dem aufgeschlitzen Körper und den markanten Augenbrauen von Frida Kahlo hängen.

Soziolinguistischer Striptease

Wie wurden die Interviews ausgewertet?

Nachdem wir die Interviews transkribiert hatten, stellte sich für uns in diesem Paradigma der Kunstkommunikation die Frage nach der sozialen Varianz – jetzt nicht mehr varietätenlinguistisch, sondern kunstsoziologisch: Wie spricht wer über Kunst am Beispiel dieses Bildes?

Wenn Sie über Kunst sprechen, müssen Sie diese erstens in irgendeiner Weise zur Sprache bringen. So wird in ihrer sprachlichen Äußerung das Kunstwerk in immer neuen Schattierungen, Formen und auch Bewertungen reformuliert. Und zweitens bedingt die Situation, dass Sie etwas über sich preisgeben, Sie soziolinguistisch sozusagen die Hosen runterlassen müssen.2
Sie äußern sich mit den Registern und auch den Bewertungsstrategien, die Ihnen zur Verfügung stehen, die aus der Ecke der Gesellschaft stammen, der Sie zugehören. Soziologische Parameter sind etwa die des Geschlechtes, des Bildungsgrades und der Kunstaffinität des Lebensbereichs. Aber auch die Urbanität des Lebensraumes spielt eine große Rolle. Menschen aus ländlichen Gegenden operierten beispielsweise eher mit einem konservativen, traditionellen Begriff von Kunst und sagten, wenn ein Bild nicht schön, wohlgefällig, nach Akademiemaßstäben des 18. Jahrhunderts gestaltet ist, dass es keine Kunst sei. Das Spannungsfeld der Forschungsinteressen ist also einerseits die sprachliche Konstruktion des nichtsprachlichen visuellen Eindrucks, was ja immer eine metaphorische Konstruktionsleistung von einem Medium ins andere ist, und andererseits die soziale Positionierung der Sprecher durch ihr eigenes Sprechen.

Gibt es Übereinstimmungen zwischen den sozialen Gruppen oder sind sie so unterschiedlich, dass man wenig gemeinsame Aspekte findet?

Auch wenn wir noch keine Ergebnisse präsentieren können, kristallisieren sich doch wenige Typen heraus. Zum Beispiel die Gehorsamen, die versuchen die visuelle Gestalt so genau wie möglich sprachlich abzuarbeiten und dabei eine gemeinsame Struktur erzeugen. Im Gegensatz dazu die Kreativen, die schon die Beschreibungsaufgabe mit wilden Interpretationen und Assoziationen angehen.

Alle Bildelemente, die ‚Vordergrund‘ signalisieren, sind in dem Bild in der Frauenfigur vereint und werden zuerst beschrieben. Dabei gibt es drei auffällige Punkte: sehr wohlgeformte und gut, sozusagen hyperrealistisch gemalte Brüste, den aufgeschlitzten Körper und markante Augenbrauen. Daran bleiben die Leute hängen, nur unterscheidet sich, was zuerst benannt wird. Insbesondere bei Männern ist es so, dass sie ganz offensichtlich zuerst auf die Brüste schauen. Die einen sagen es auch, die anderen trauen sich nicht, suchen, an einer Mikropause erkennbar, Ersatz. Besonders ältere Sprecher lavieren häufig minutenlang um diese faszinierenden Brüste herum, während sich Frauen ganz anders verhalten. Ihnen springen der Appell durch den direkten Blick und die Verwundung ins Auge und werden sprachlich verarbeitet. Diese Beschreibungen haben durch die Bildgestalt auf der einen Seite und die Gestaltprinzipien der Wahrnehmung auf der anderen Seite eine immer wiederkehrende Grundstruktur. Der Hintergrund wird, weil er auch bewusst diffus gehalten ist, dann noch mehr oder weniger ausführlich angehängt. Dieses Bild eignet sich insofern nicht gut, um elaborierte thematische Sequenzierungen der Beschreibung, wie sie etwa Andreas Loetscher für die Textlinguistik beschrieben hat, hervorzurufen.

Mein Lieblingszitat ist übrigens die Antwort auf die dritte Frage: „Gefällt Ihnen das Bild?“ Da sagen gefühlte 80 Prozent der Befragten unabhängig von Geschlecht und Bildungsschicht: „Ich würde es mir nicht übers Sofa oder ins Wohnzimmer hängen.“ Dabei kann ein Kunstwerk, etwa im Museum, einem gefallen oder nicht. Aber dieser Topos, dass ein Bild etwas ist, was man sich potentiell ins Wohnzimmer hängt, ist sehr stark in den Köpfen der Menschen verankert. Selbst ein emeritierter Professor, der ansonsten sehr viel Wert auf eine möglichst bildungssprachliche Verarbeitung des Bildes gelegt hat, hat das so formuliert.3 An bestimmten Stellen sind die Übereinstimmungen so frappierend, dass man auch als Mensch erschrickt. Man fühlt sich dabei in seiner Serialität ein bisschen am Schopfe gepackt.

Inwieweit sind diese Studien in die Domäne „Kunst – Kunstbetrieb – Kunstgeschichte“ des Forschungsnetzwerks „Sprache und Wissen“ integriert?

Das Forschungsnetzwerk, das Sie ansprechen, wurde von Ekkehard Felder, der den Lehrstuhl für Gegenwartssprache am Germanistischen Seminar Heidelberg hat, mit dem Ziel gegründet, die sprachliche Hervorbringung gesellschaftlichen Wissens durch Experten und Laien in verschiedenen Wissensdomänen zu untersuchen. Diese Erhebung ist mittlerweile ein Teilprojekt. Das hat auch mit meiner Person zu tun. Ich bin damals mit Andreas Gardt, Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Kassel, in die Situation gekommen, diesen Bereich innerhalb des Forschungsverbundes zu vertreten. Das Projekt passt außerdem sehr gut, weil es die drei für das Forschungsnetzwerk konstitutiven Dimensionen, nämlich Sprache, Gesellschaft und Wissenszusammenhänge, vereint. Und auch ein weiterer Hauptuntersuchungsgegenstand, die Diskrepanz zwischen fachlichen und nichtfachlichen Arten des Redens, wird greifbar.

Das ist keine Kunst

In Wien haben Studenten von Heiko Hausendorf 2001 und in der Folgezeit ebenfalls Passanten befragt, allerdings zu einem abstrakten Werk. Wie sehen die Ergebnisse dort aus?

Das Projekt von Heiko Hausendorf war für uns natürlich eine große Inspiration. Hausendorf hatte bei seinem Experiment jedoch eine viel offenere Form, so dass man ein weiteres Spektrum an Äußerungen zur Kunst bekommt, aber vielleicht keine so gute Möglichkeit zum Vergleich hat. Er bat viele Menschen in verschiedenen Zusammenhängen mehrere Bilder mündlich und auch schriftlich zu beschreiben und zu kommentieren. Somit ging es bei seiner Studie mehr um die Möglichkeit der Verbalisierung von Kunst, nicht um die soziologische Differenzierung, wie wir sie mit einer strengeren Versuchsanordnung untersuchen.

Eine Standardantwort der Interviewten in Hausendorfs Projekt war etwa: „Das ist keine Kunst.“ Das hat aber mit dem Gegenstand zu tun, denn er wählte „The Italians“ von Cy Twombly. Diese strikte Ablehnung und ein ex negativo in Blei gegossener Begriff von Kunst zeigte sich besonders bei Menschen, die mit Kunst nicht so viel zu tun haben. Ich habe auch den Eindruck, je mehr man sich mit Kunst beschäftigt, desto weniger weiß man eigentlich, was sie genau ist. Den „Ich würde es mir nicht Zuhause aufhängen“-Topos, meinte Hausendorf, kenne er auch sehr gut.

„Das ist keine Kunst“, so die Passanten in Wien über Cy Twombly „The Italians“.

Lassen sich aus diesen zwei Erhebungen zur Sprache und Kunst Ergebnisse übertragen, Universalien der Kunstkommunikation finden?

Da wäre ich sehr vorsichtig. Ich würde nicht sagen, dass wir in irgendeiner Weise schon verstanden hätten, wie man über Kunst spricht. Man glaubt schließlich immer dann etwas gefunden zu haben, was universell ist, wenn die Ergebnisse nicht nur mit anderen Studien, sondern auch mit dem eigenen Erleben, der eigenen Intuition übereinstimmen. Aber bestimmte Topoi, ein Kunstbegriff, der umso fester und diktatorischer wird, je weiter der Mensch eigentlich von der Kunstszene entfernt ist, und der Wohnzimmertopos sind Dinge, die immer auftreten. Was aber bei unserer bewusst auf Laienkommunikation abzielenden Erhebung beispielsweise nicht auftrat, war der Unsagbarkeitstopos. Je anspruchsvoller man sich über Kunst äußern will, desto eher tendiert man zu unverständlichen verknoteten Satzgebilden.

Patriotischer Humus

Mit den Rändern der Disziplinen, zwischen Kunstgeschichte und Germanistik, haben Sie sich auch in ihrer Dissertation beschäftigt. Dort thematisierten Sie die deutsche Nationalgeschichtsschreibung durch Kunst. Fungiert Kunstgeschichte denn heute noch als Vehikel nationaler Identitätsbildung?

Diese Funktion hat sie derzeit wieder ganz stark inne. Im letzten Jahr ist der letzte Band einer achtbändigen „Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland“ bei Prestel erschienen. Es gab in den letzten Jahren die fantastische dreibändige „Geschichte der deutschen Kunst“ von Heinrich Klotz und Martin Warnke (1998-2000) und 2005 von Robert Suckale eine umfangreiche Darstellung der „Geschichte der Kunst in Deutschland“. Man kann Kunstgeschichten natürlich nach verschiedensten Gliederungskriterien schreiben und was hat dabei eine Nation eigentlich mit Kunst zu tun?

Wie bei so vielem sind die Wiedervereinigung und die Europäische Einigung Zeitpunkte, bei denen man merkt, dass die Menschen ein Bedürfnis danach haben, die Geschichte des eigenen Landes zu erzählen und so das Thema wieder aktuell werden lassen. Nun kann man Suckales Duktus und seine Intention natürlich nicht mit einer Kunstgeschichte von Hans Weigert oder Wilhelm Pinder vergleichen, aber letztlich findet sich auch in seinem Text ein patriotischer Humus, auf dem das ganze wächst. Dieser Duktus ist bei Klotz etwas deutlicher. In seinem Vorwort stellt er sehr eloquent und freundlich dar, warum die internationale Kunstgeschichte doch auf ,unsere‘ großen Meister wie Dürer, die Romantik und worüber man auch immer ein bisschen verächtlich hinweg sehen mag, mehr achten solle. Das heißt natürlich im Gegenzug nicht, dass das andere, wie es früher der Fall war, abgewertet wird.

Metier der Italiener: das Harmonische und Schöne.

Weil heutzutage große Persönlichkeiten der Kunstgeschichte so internationalisiert, nur noch im Flugzeug leben und heute in Paris, morgen in New York und übermorgen in Tokyo sind, merken sie natürlich, dass die Menschen dort gar nicht über das reden, was man von Zuhause kennt und schätzt. Dies führt wiederum dazu, dass man es erzählen möchte. Besonders der europäische Einigungsprozess und die Globalisierung in der Kunstszene sind Gründe dafür, die eigenen Wurzeln wieder auffinden zu wollen. Das zeigen Topoi, die sich auch in neuen Texten immer wiederfinden, zum Beispiel das Expressive als die eigentliche Triebfeder der deutschen Kunst wie schon bei Pinder. Das Expressive und Hässliche sei das eigentlich Deutsche, das Harmonische und Schöne eher Metier der Franzosen und Italiener. Nicht wenige der deutschen Maler der Avantgarde sind damals furchtbar verprellt worden, weil sie durchaus mit den Nazis sympathisiert haben, diese aber ganz andere Vorstellungen von ,echt deutscher Kunst‘ hatten. Diese Vorstellungen hatten viel mit der Bauernmalerei von Adolf Hitler zu tun, aber nichts mit dem, was alle anderen, die was von Kunst verstanden, als ‚deutsch‘ begriffen. Diese tragische Geschichte wird so zwar nicht mehr geschildert, scheint in diesen Texten aber immer noch durch oder schwingt zumindest mit.

Kann die Kunstgeschichte hier vielleicht von der linguistischen Forschung lernen?

Ich neige als Linguist gewiss dazu, die Bedeutung der Linguistik zu überschätzen. Außerdem weiß ich natürlich, dass Kunsthistoriker es mit Bildern und eben nicht mit Sprache zu tun haben. Aber wenn man täglich mit dem Reden und Schreiben über Kunst seine Brötchen verdient oder verdienen will, tut man gut daran, sich in einem Abschnitt seiner Bildungslaufbahn, am besten im Studium, zu fragen, was man da eigentlich macht. Wie macht man es, und auf welchen Voraussetzungen beruht es? Wie komme ich überhaupt zu den Wörtern und Beschreibungsmustern, die ich ständig produziere? Welche sind der Kunst geschuldet und welche meiner kunsthistorischen Tradition? Was transportiere ich in diesen Texten nolens volens mit, ohne dass ich es vielleicht intendiert habe? So profitiert man davon, sich die eigenen Traditionen des Sprechens bewusst zu machen.

Nach dem Studium der Germanistik, Romanischen Philologie und Europäischen Kunstgeschichte in Heidelberg und Granada legte der Sprachwissenschaftler Marcus Müller mit „Geschichte - Kunst - Nation. Die sprachliche Konstituierung einer ‚deutschen‘ Kunstgeschichte aus diskursanalytischer Sicht“ 4 eine interdisziplinäre Dissertation zur Kunstkommunikation vor. Seit 2006 leitet Müller zusammen mit Andreas Gardt (Kassel) die Wissensdomäne „Kunst – Kunstbetrieb – Kunstgeschichte“ im Forschungsnetzwerk „Sprache und Wissen – Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation“.

  1. Zit. nach Hausendorf, Heiko: „Die Kunst des Sprechens über Kunst – Zur Linguistik einer riskanten Kommunikationspraxis“. In: Klotz, Peter/Lubkoll, Christine (Hg.): Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse. (Rombach Wissenschaften, Litterae, Bd. 130) Freiburg 2005, S. 99-134, hier S. 100: „Der Protagonist Isaac besucht mit seiner Freundin Tracy eine Fotoausstellung in einem Museum und trifft dort unerwartet seinen Freund Yale, der – wie sich dann schnell herausstellt – seinerseits mit seiner ‚neuen‘ Freundin Mary die Ausstellung gesehen hat. Die folgende Grobverschriftlichung der Szene (nach der deutschen Fassung des Films) gibt den Dialog wieder, der sich daraufhin ergibt“ (S. 99/100)
  2. Situation: Befragung zu einem Selbstporträt von Frida Kahlo
    Teilnehmer: Michael Bach (A); Mann, Alter: 46 (B); Mann, ungefähr gleiches Alter (C); Janina Effelsberg (D)
    01 A: beschreiben Sie bitte das bild so genau wie möglich.
    02 B: also e nackte frau (.)
    03 aufgschlizder bauch nägel im körber (.)
    04 hmm ne tätowierung oder träne im gsicht
    05 e tuch hattse rum
    06 irgendwo in ere landschaft die grün is (.)
    07 blaue himmel hamma
    08 im aufgschlitzte teil des bildes also äh wo de körper offe is des könnt e säule sein irgend e antike säule (-)
    09 auffällig sind die augenbrauen (.) die durchgehend sin so vogelform fliegender vogel form
    10 ja lange haare hat se
    11 könnte aber auch en mann gwesen sein leichter bartansatz oberlippenbärtchen oder leichter frauenbart (lacht)
    12 ja des wars eigentlich soweit
    13 A: ok, was denkt
    14 B: Ach so die
    15 A: ja
    16 B: die die gürtel oder was des da sin ham ma vergesse
    17 A: was denken sie dass der frau durch den kopf geht
    18 B: en nagel (lacht)
    19 A: (lacht)
    20 D: (lacht)
    21 B: hm hm
    22 C: nimmer viel glaub isch so wie die aussieht
    23 D: (lacht)
    24 C: (lacht)
    25 B: ne weiß ich net
    26 A: gefällt ihnen das bild?
    27 B: hm ja ich find´s net schlecht
    28 A: ja?
    29 B: hm
    30 A: warum?
    31 B: interessant mal was anneres net so null acht fünfzehn
    32 A: gut
    33 D: wunderbar dann vielen dank
    34 B: jo
  3. Situation: Befragung zu einem Selbstporträt von Frida Kahlo
    Teilnehmer: Michael Bach (A); Teilnehmer: Mann, Alter: 67 (B); Janina Effelsberg (C)
    01 A: beschreiben Sie bitte das bild so genau wie möglich.
    02 B: ja, das kenn ich ja. / ne (.) ja carla ja. ist also mit nägeln gespickt, viele wundmale und sie weint
    03 die wirbelsäule ist zu sehen
    04 sie hatte wohl eine furchtbare op gehabt und des is so ne art martyrium
    05 im korsett geschnallt und so
    06 das ist also (.) so ein typisches carla – bild ja carlo – bild ja
    07 A: dann was geht der frau durch den kopf?
    08 B: ja (.) es is es müssen also (.) äh schmerzliche erinnerungen sein
    09 äh es äh insgesamt die gedanken müssen mit großer traurigkeit behaftet sein (.) denke ich
    10 A: mhm
    11 B: und (.) äh ich glaube es verheißt im kopf wenig zukunftvolles optimistisches sondern es ist sehr von dieser äh schmerzhaften erinnerung behaftet (.)
    12 Sozusagen
    13 A: danke jetzt die nächste frage und die letzte
    14 gefällt ihnen das bild?
    15 B: Äh
    16 A: wenn ja warum wenn nein warum nicht
    17 B: Es gefällt mir NICHT
    18 Es ist ein großartiges bild aber ich würd´s mir nicht äh zuhause an die wand hängen
    19 weil mich das zu sehr runterziehen würde
    20 ähm äh es ist eine zu pessimistische ausstrahlung
    21 aber das bild ist also äh eine offenlegung (.) äh psychischer individueller dimension die also selten in dieser ausdrucksstärke
    22 ich denke an den gekreuzigten christus
    23 Äh äh so deutlich wird
    24 Es ist ein großartiges bild aber (.) ich persönlich würde nicht mit dem bild täglich leben mögen
    25 C: vielen dank
    26 A: vielen dank
  4. Müller, Marcus: Geschichte - Kunst - Nation. Die sprachliche Konstituierung einer ‚deutschen‘ Kunstgeschichte aus diskursanalytischer Sicht. Berlin, New York 2007 (Studia Linguistica Germanica, Bd. 90).

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