Kritik
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Es menschelt gar nix. Die RAY-Fotografieprojekte in Frankfurt

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“Dass die faktische Abbildung von Realität in jeder Kunstform ein Trugschluss ist, ist allgemein bekannt,” wird der Leser des RAY-Katalogs zu Beginn belehrt. Weiß ich, denkt man sich. Aber irgendwie muss der epistemische Zweifel an der Fotografie nochmal als Mantra vorangestellt werden, denn trotz allem ist da noch eine Erwartung an Fotografie. Denn Fotografie ist immer noch das bevorzugte Medium der Reportage, so als könnte sie das Entfernte und Unzugängliche nah heranholen. „Imagine Reality“ ist der Titel der zweiten Ausgabe der Fotografieprojekte Rhein-Main, eine Leistungsschau zeitgenössischer Fotografie in und um Frankfurt. Es geht um die vorgestellte Realität, oder doch eher um gar nichts, wie Clemens Meyer im Vorwort „Imagine GARNIX“ zum Katalog proklamiert. Was ist los mit dem dokumentarischen Wert von Fotos?

Ein wenig bleibt von der Reportagefotografie: Lucas Foglias  Bilder aus dem Mittleren Westen der USA erinnern an die Zeit der großen Depression in den 1930ern. Die Farm Security Administration beauftragte Fotografen, die Armut auf dem Land zu dokumentieren. Foglias Figuren sind einsam in menschenleeren Landschaften. Ein Mann zielt mit einem Gewehr auf eine Kuh, die ganz ruhig in die Kamera blickt. Ein anderer Mann balanciert auf einem Zaunpfahl, eingefroren, kurz vor dem Sturz. In Foglias Bildern menschelt es aber kaum, und auch sonst geht es bei RAY eher um das Beobachten von normalerweise Unsichtbarem.

Fragen nach dem ontologischen Status digitaler Fotografie sind den sechs Kuratoren egal und den meisten Besuchern wahrscheinlich auch. Darum unterscheidet die Ausstellung nicht zwischen digital hergestellten Collagen und dem genau choreografierten Spiel mit Belichtungszeiten wie es  beispielsweise Klaus Elle betreibt. Elle erzählt gerne, wie er ganze Tage in den 1980ern und 1990ern im dunklen Keller mit der Taschenlampe und einer 35mm-Kamera zugebracht hat. Das Ergebnis sind Aufnahmen, die nicht nur Avantgarde-Praktiken des zwanzigsten, sondern auch an okkulte Fotografie des neunzehnten Jahrhunderts denken lassen.

Klaus Elle, Aus der Serie "Erleuchungen", 1986-1999  © Klaus Elle

Klaus Elle, Aus der Serie „Erleuchtungen“, 1986-1999
© Klaus Elle

Ein Faible für Zelluloid haben auch João Maria Gusmão und Pedro Paiva, aber auch für alles, was sich dreht. Filmprojektoren, zum Beispiel. Das Künstlerduo aus Portugal zeigt zehn 16mm-Filme. Das Format hat ja im Experimentalfilm mittlerweile einen ähnlich klassischen Status wie die Ölmalerei an den Kunstakademien. Aber bei Gusmão und Paiva stört dieser Klassizismus gar nicht. Grobkörnige Aufnahmen zeigen einen Cassowary vor einer gemalten Kulisse, ein anderer Film zeigt Waldarbeiter, wie sie Bäume fällen, ein weiterer eine Gruppe afrikanischer Albinos um ein Lagerfeuer. Der Katalogtext orakelt, dass Mechanismen der Wahrnehmung in Frage gestellt werden. Vor allem werden hier vergangene Avantgarde-Praktiken zitiert. Die abstrakten Filme erinnern an Duchamps Rotoreliefs, die Aufnahmen am Lagerfeuer machen das Versprechen einer kommenden Erzählung, das aber nicht eingelöst wird.

João Maria Gusmão & Pedro Paiva, Onça Geométrica, 2013  © the artists and Galeria Fortes Vilaça, São Paolo; Galeria Graça Brandão, Lisboa; Sies + Höke, Düsseldorf, Zero, Milano

João Maria Gusmão & Pedro Paiva, Onça Geométrica, 2013
© the artists and Galeria Fortes Vilaça, São Paolo; Galeria Graça Brandão, Lisboa; Sies + Höke, Düsseldorf, Zero, Milano

Zum Glück hat sich Simon Starling den Jeff Koons Witz nicht verkniffen, denn sonst wäre seine Arbeit vielleicht ein bisschen zu clever. “The Nanjing Particles” benutzt zwei gefundene Fotografien, ursprünglich aus einem Stereoskop. Die Bilder aus dem Jahr 1875 zeigen chinesische Wanderarbeiter vor einer Schuhfabrik. Die Arbeiter wurden als billige Arbeitskräfte eingesetzt, als es in der Schuhfabrik bei San Francisco zum Streik kam. Aus den Abzügen hat Starling zwei Silberteilchen extrahiert und daraus stark vergrößerte Modell anfertigen lassen — in Nanjing, denn dort ließen sich die Plastiken am billigsten produzieren. Mit seinen Modellen in Jeff Koons-Dimensionen ist Starling einer der Stars der Schau, deshalb hat seine Arbeit auch einen prominenten Platz im Zentrum des Museums.

Simon Starling, The Nanjing Particles (After Henry Ward, View of C.T. Sampson’s Shoe Manufactory, with the Chinese Shoemakers in working costume, North Adams and vicinity, ca. 1875), 2008 Ausstellungsansicht / exhibition view MMK 1, Foto/photo: Axel Schneider

Simon Starling, The Nanjing Particles (After Henry Ward, View of C.T. Sampson’s Shoe Manufactory, with the Chinese Shoemakers in working costume, North Adams and vicinity, ca. 1875), 2008
Ausstellungsansicht MMK 1, Foto: Axel Schneider

Die Kowloon Walled City war ein in die Höhe gewachsener Slum bei Hongkong, eine Art Bienenstock aus Beton und ohne Baugenehmigung. Davon ist in David Claerbouts Videoarbeit “Radio Piece” erst einmal nichts zu sehen. Am Anfang steht nämlich die Ansicht eines Zen-Gartens. Nur ganz langsam zoomt die Kamera aus dem Idyll und es kommt eine winzige Wohnung mit zwei jungen Männern in den Blick. Dann der Zoom aus dem Fenster, und die Fassade der Kowloon Walled City ist im Bild. Die Walled City wurde 1993 abgerissen. Claerbout hat die Ansichten nahtlos zusammenmontiert und lässt die glaubwürdigen Raumillusionen nacheinander zusammenbrechen: vertrieben aus dem Zen-Garten, eine enge Wohnung, schließlich die Fassade des vertikalen Slums.

 David Claerbout, Radio Piece, 2015 © the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich.


David Claerbout, Radio Piece, 2015
© the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich.

Der Kunstverein ist eine Außenstelle von Imagine Reality und zeigt eine Werkschau von Trevor Paglen: „Octopus.“ Mit Teleobjektiven fotografiert er geheime Luftwaffenbasen der US-Army, oder macht Fotos von Abhörstationen bei Nacht. Paglen, der investigative Journalist, Paglen der Abenteurer: Dazu passt, wie gerne die Presse von seiner Arbeit berichtet. Aber die Umkehrung der Blickrichtung, seine Beobachtung der Beobachter gibt kaum Aufschluss über die Funktion der Anlagen, die er fotografiert, auch wenn die genauen Koordinaten angegeben sind. Die Bilder lassen Störungen zu, oder sie erinnern an klassische Landschaftsmalerei. “They Watch The Moon,” heißt ein Bild. Der Titel der Ausstellung spielt auf ein Emblem des Geheimdienstes an, das einen Oktopus mit dem Motto “Nothing Is Beyond Our Reach” zeigt. Die ästhetisierte Paranoia erinnert an die Romane von Thomas Pynchon. Hinter der Welt ist noch eine unsichtbare Welt, wo riesige Kraken die Erde im Griff haben und wo Teleskope auf Waldlichtungen den Mond im Blick haben. Und, man errät es, nur die Fotografie kann die unsichtbare Hinterwelt sichtbar machen.

„They Watch the Moon“, 2010 C-print 91.44 x 121.92 cm © the artist Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

„They Watch the Moon“, 2010 C-print
91.44 x 121.92 cm
© the artist
Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

Die RAY-Fotografieprojekte sind noch bis zum 20. September 2015 im Museum für Moderne Kunst, im Frankfurter Kunstverein und an zehn weiteren Standorten zu sehen.

 

Titelbild: David Claerbout, Radio Piece, 2015
© the artist and galleries Micheline Szwajcer, Brussels: Sean Kelly, New York; Johnen Galerie, Berlin; Rüdiger Schöttle, Munich, RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain.

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