Essay
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Schämst Du Dich noch oder postest Du schon? Über Kunst und Scham im Internet

Was haben Selfies mit Feminismus und Kunst zu tun? Nichts? Stimmt nicht! Im Marta Museum in Herford ist gerade die Ausstellung „Die Innere Haut. Kunst und Scham“ zu sehen. Anika hat aufgeschrieben, wann sie sich schämt, wann sich Netzkünstlerinnen wie Molly Soda schämen, was sie dagegen tun und wie ein weiterer Raum in der Ausstellung aussehen könnte, der die Geschichte von Kunst und Scham bis zum Kampf um Akzeptanz aller Körperformen in der Gegenwart erzählt. (tl;dr: Der Feminismus hat es schwer, feministische Netzkünstlerinnen haben es noch schwerer, oder umgekehrt, Body Shaming ist schlimm, Selfies sind noch schlimmer, nicht.)

Prolog

Für Röcke und Kleider habe ich mich nie begeistern können. Ab und an fragen mich Freunde und Bekannte, warum ich meist schlabberige Hosen trage. Der Grund sind meine Beine, aber das sage ich nicht laut. Antworten muss ich trotzdem, deshalb nuschele ich etwas vor mich hin wie, weil es bequem ist. Thema vom Tisch. Der eigentliche Grund ist ein anderer.

Mein Abitur habe ich in einer süddeutschen Kleinstadt gemacht. Dieser Kleinstadt und meinem Gymnasium samt direkt angrenzender Realschule ging es überdurchschnittlich gut, weil ein deutscher Softwarehersteller seinen Sitz dort hat. Es gab einen Computerraum und einen Anbau, ein zusätzliches Stockwerk, für das Gymnasium über der Realschule. Irgendwie hatte ich es in der Oberstufe geschafft, die Aufmerksamkeit der Realschüler und der Gymnasiasten auf mich zu ziehen und einmal wenigstens waren sie sich alle einig.

Ende der 90er hatte ich beschlossen, mich vegan zu ernähren, was zu einigen Irritationen führte, denn damals ernährte sich außer mir nur der Sänger meiner australischen Lieblingsband vegan. Und sicherlich noch ein paar andere Menschen. Daniel Johns brüllte Sätze wie, „Why can’t the livestock be free“ und „these are the facts / So eat what you murder / This is animal liberation /Eight billion killed for human pleasure“ in sein Mikro und in meine Ohren, denn ohne meinen Walkman ging ich nicht aus dem Haus.

An meiner veganen Ernährung, wie auch immer sich das in der ganzen Schule herumgesprochen hatte, und an meinen dünnen Beinen beziehungsweise an meinen insgesamt dünnen Körper wollten sich also die Gymnasiasten und Realschüler stören. Zum Glück hatte ich eine Freundin – in dieser Situation war es vielleicht unser beider Pech, denn diese Freundin hatte in den Augen der Mitschüler auch zu dünne Beine. Immerhin hatten wir einander und unsere Miss Sixty-Schlaghosen, in denen wir versuchten, unsere Beine zu verbergen.

Ein paar Monate lang war mein Gang ins Klassenzimmer ein Spießrutenlauf. Jeden Morgen versammelten sich die Jungs oben an der Treppe und warteten, bis ich heraufkam. Ich weiß nicht mehr, was sie da immer brüllten, ich weiß nur noch, dass sie grölten, klatschten und pfiffen. Es war unerträglich. Eines Tages hingen auf dem ganzen Schulgelände Zettel, auf denen stand „Wanted. Veganer“, darunter eine Zeichnung und eine Beschreibung. Ich war gemeint. Einmal hatte ich das Gespräch mit meinem Mathelehrer gesucht. Ich wartete morgens unten an der Treppe auf ihn, damit er direkt hinter mir lief und den Affenzirkus mitbekam. Es hat ihn nicht weiter interessiert. Jedenfalls kommen seither Röcke, Kleider und enge Hosen als Kleidungsstücke so wenig für mich in Frage, wie Fleisch als Nahrungsmittel.

Wenn der Feminismus trendet

Manchmal denkt man ja länger über einen Text nach, als gut für den Text und einen selbst ist. Du Opfer! Warum überhaupt dieser Erfahrungsbericht? Wie peinlich, diese Selbstbezogenheit! Das flüstert mir der Kritiker auf meiner Schulter ins Ohr. Über das Thema Feminismus wurde in den letzten Wochen und Monaten viel geschrieben, und alle regen sie sich auf, ganz fürchterlich regen sie sich auf. Was also schreiben, dass nicht zu feministisch, zu wenig feministisch oder zu falsch feministisch ist? Feministinnen wollen nämlich plötzlich keine Feministinnen mehr sein und Frauen, die sich nie sonderlich für den Feminismus interessiert haben, sind jetzt Feministinnen. Zwei Artikel als Beispiele, die Facebook mir in den letzten Tagen in die Timeline gespült hat: Ist das Feminismus oder kann das weg? Ein Beitrag aus dem Libertine Magazine. Der Anlass: Die Zeitschrift Glamour hat den Feminismus entdeckt, was wie ein Widerspruch in sich klingt. Und von Carolin Würfel aus dem Zeit Magazin: Feministin, ich? Ja! Aber wie? Der Anlass: Sie zweifelt an sich, am Feminismus und an allen, die nicht am Feminismus zweifeln, aber das Zweifeln, das sollten wir alle ab sofort ganz dringlich lassen. 

Wenn man alles glaubt, was an Statements auf T-Shirts und Jutebeuteln durch die Gegend getragen wird oder im Radio rauf- und runterläuft, regieren Mädels eh schon die Welt und die Zukunft ist weiblich. Das stimmt natürlich nicht, aber es kling gut und sieht noch besser aus. Genau deshalb sind viele Feministinnen jetzt doch lieber Nicht-Feministinnen: Der Feminismus macht sich mittlerweile zu gut, als Modeaccessoire auf der Straße und als Clickbait in den sozialen Medien, und ist oft nicht mehr als ein Slogan à la The Future is Female. (In der New York Times kann die Geschichte dieses T-Shirts nachgelesen werden: A Feminist T-Shirt Resurfaces From the ‘70s.) Ausverkauf, rufen sie! Denn in den Mainstream, da wollten sie doch gar nicht hin, denn ist der Feminismus erst einmal im Mainstream angekommen, muss er zu bequem, zu kuschelig geworden sein. An dieser Stelle könnte ein Witz über Oma-Schlüpfer mit der Aufschrift Feminist stehen. (1)

Wer nicht die Diskussionen in den Medien mitverfolgt, wird jetzt sicher sagen, Moment, was ist da los? Ist doch fein, stark, super, dass der Feminismus im Mainstream angekommen ist!11!1!!! Das finden wie gesagt nicht alle und schon gar nicht diejenigen, die sich bereits vor Beyoncés Song Run the World (Girls) aus dem Jahr 2011 für das Thema Feminismus interessiert haben. Anlässlich des Internationalen Weltfrauentags im März fand hier in Hamburg der Sister’s March statt, überall auf der Welt gingen an diesem Tag Frauen auf die Straße. Typisch Hamburg, es war nass und verdammt kalt. Aus den Boxen schallte fast unentwegt „Girls, we run this motha (yeah!) Girls! Who run the world?“ Die Antwort wurde gebrüllt, super enthusiastisch im Chor: „Girls!“

Ich wusste nicht, dass man sich entweder komplett schwarz zu kleiden hat – meine Begleitung aus Berlin wies mich erst vor Ort darauf hin, dass der Dresscode bei Demonstrationen schwarz sei, worauf ich eigentlich selbst hätte kommen können– oder dass man sich am besten gleich ein pinkes Bettlaken umwickelt. Pinke Bettlaken laufen wohl eher nicht unter Dresscode, gegen Kälte helfen sie sicherlich bestens. Um nicht noch mehr aufzufallen, hopste ich unentschlossen von einem Bein auf das andere, was im besten Fall nach begeisterten Tanzbewegungen aussehen sollte, und sagte an den richtigen Stellen wie ein Mantra „Girls“ vor mich hin. Nach dem Sister’s March waren wir dann zu zweit unentschlossen, meine Begleitung und ich, denn warum nochmal waren wir durch den Regen gelaufen?

Was ich bin, darüber habe ich mir bisher nie wirklich Gedanken gemacht. Nicht vor und nicht nach dem Sister’s March, nicht nach der Lektüre von Jessa Crispins Manifest Why I am Not A Feminist oder von Andi Zeislers Buch Wir waren doch mal Feministinnen oder von Roxane Gays Buch Bad Feminist oder von Margarete Stokowskis Buch Untenrum Frei. Bin ich eine Feministin, bin ich eine schlechte Feministin oder bin ich lieber keine Feministin? Da ich eine Frau bin, habe ich es bisher als gegeben genommen, dass ich Feministin bin, schließlich bin ich für Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Und da mich das Marta Museum gebeten hat, etwas über die Ausstellung Die innere Haut. Kunst und Scham in mein Blog zu schreiben, habe ich mir zuerst einmal Gedanken darüber gemacht, wann ich mich schäme. Mein erster Gedanke: Wenn ich einen Rock oder ein Kleid anziehen würde. Warum? Das haben Sie im Prolog zu diesem Text gelesen. Als Feministin würde ich also schon einmal keine gute Figur machen – im übertragenen Sinne –, weil ich mir immer noch von der Horde pubertierender Lauche von damals diktieren lasse, wie ich mich heute kleide. Absurd. Ich weiß.

Posten gegen die Scham

Die amerikanische Netzkünstlerin Molly Soda geht in die Offensive, wenn sie sich schämt – das hat sie mir kürzlich erzählt, als ich für Spiegel Online mit ihr sprach. Molly ist unter anderem für ihre Selfies mit Körperbehaarung bekannt. Schämst Du Dich manchmal, habe ich Sie gefragt, wenn Du Fotos von Dir selbst auf Instagram oder Twitter postest? „Ja, natürlich“, antwortete Molly. „Nicht alles, was ich poste, hat mit Scham zu tun. Aber es ist wahrscheinlicher, dass ich etwas poste, wenn es mich beschämt oder mir peinlich ist. Weil ich mich nicht so fühlen möchte, poste ich es. Um das Gefühl loszuwerden. Bei vielen meiner Fotos wird man denken, oh mein Gott, ist das peinlich, das würde ich niemals teilen. Warum postet sie das? Manchmal gibt es den Leuten ein besseres Gefühl, wenn sie sehen, dass das jemand macht.“

Molly Soda postet auf Twitter und Instagram Selfies gegen die Scham. Ihr Instagram: bloatedandalone4evr1993.

Den Leuten gibt es aber eben auch manchmal ein besseres Gefühl, wenn sie andere Menschen online wegen ihres Körpers diskriminieren können. Denken wir nur daran zurück, was der österreichische Autor Thomas Glavinic letzten Sommer über Stefanie Sargnagel auf Facebook äußerte – er nannte sie einen „sprechenden Rollmops“. Gehen in Diskussionen die Argumente aus, kann es schnell persönlich werden, wenn Frauen involviert sind. Nur, wie viele Frauen sagen wohl zu einem Mann, wenn sie nicht mehr weiterwissen: „Ey, Alter, lass Dir erst einmal Haare wachsen!“ In ihrem Text über Körperbeschimpfungen als Kampfmittel auf Zeit Online hat Catherine Newmark auf eine Studie des Guardian hingewiesen, die zeigte, wie sie schreibt, dass „von seinen zehn in den Onlinekommentaren am meisten geschmähten Autoren acht Frauen sind (die anderen beiden sind schwarz).“

Molly Soda und Arvida Byström haben ein Buch mit Fotos herausgegeben, die von Instagram zensiert wurden, um die Nutzer zu schützen. Das Foto von Lee Phillips ist eines davon. „Pics or It Didn’t Happen“ ist in den vergangenen Tagen bei Prestl erschienen.

Die Body Positive-Bewegung (2) setzt genau an dieser Stelle an. Alle Körperformen sind okay, dafür steht diese Bewegung, die gern als der neue Trend im Feminismus bezeichnet wird oder als Bewegung für ein neues Körpergefühl. So neu ist das natürlich alles nicht, aber jetzt gibt es eben ein Hashtag dafür. Kolja Reichert hat kürzlich in der FAZ darüber geschrieben, dass es möglich wäre, „die Geschichte der zurückliegenden fünf Jahre anhand etwa der folgenden Hashtags zu erzählen. #Egypt, #PrayForJapan, #OccupyWallStreet, #BringBackOurGirls, #BlackLivesMatter, #MakeAmericaGreatAgain.“ Er hat an ein Geschichtsbuch gedacht – vielleicht wäre in diesem Buch ein Unterkapitel dem Hashtag #bodyshaming gewidmet, wenn es um das Thema Selbstbestimmung und Normen geht.

Eine Ausstellung über Kunst und Scham mit Selfies

Wie würde die Ausstellung im Marta Museum aussehen, wenn ein weiteres Kapitel in der Geschichte über Kunst und Scham geschrieben worden wäre? Wie würde ein Raum aussehen, den Netzkünstlerinnen bespielen, die Bezug nehmen auf diesen Kampf um Akzeptanz aller Körperformen, der erst durch die sozialen Medien und den Netzfeminismus mehr Menschen erreicht hat?

Die Ausstellung geht dem Motiv der Scham in der Bildenden Kunst nach, das mit den Darstellungen von Adam und Eva bekanntlich eine lange Tradition besitzt. Künstler und Künstlerinnen scheinen, so die Ausstellungsmacher, seit den 60er Jahren bis heute die Schamgrenzen auszuweiten. Und heute natürlich auch an vorderster Front Donald Trump – mit einem ganz anderen Impetus –, dem gar nichts peinlich zu sein scheint. Die Kuratorin Friederike Fast erinnert in ihrem Essay in der kleinen Begleitpublikation zur Ausstellung daran, dass Emotionen seit einiger Zeit Konjunktur haben, Stichwort postfaktisch, dass die Politik affektgesteuert ist und dass KünstlerInnen als Katalysatoren gesellschaftlicher Prozesse wirken. Sie schreibt: „Indem sie den Topos der Scham aufgreifen und das Unsichtbare und Unaussprechliche in Bilder zu fassen, fordern sie den Betrachter heraus, sich in Beziehung zu setzen und Position zu beziehen. (…) Szenen oder Themen, die andernorts verletzen könnten, werden im Museum verhandelbar.“ (3)

Bruce Gilden: Jamie, aus der Serie: Faces, 2014, © Bruce Gilden / Magnum Photos für Leica S magazin

Der Magnum-Fotograf Bruce Gilden fotografiert die Gesichter pubertierender, pickliger Jungs in Nahaufnahme und hängt sie überdimensioniert an die Wand. Was man eigentlich verstecken möchte, ein entstelltes Gesicht, wird hier ausgestellt und den Blicken aller ausgesetzt, die so nur noch genauer hinsehen. Jürgen Teller fotografierte den gealterten Körper der Modedesignerin Vivienne Westwood, sie liegt nackt auf einer Chaiselongue wie die Olympia Manets und blickt den Betrachter herausfordernd an. Und Erwin Wurm fordert die Besucher seiner Ausstellungen auf, eine Minute auf einem Podest zu einer Skulptur zu werden, wofür sie beispielsweise einen Stuhl wie eine Jacke tragen sollen. Wer vergangenes Jahr in der Ausstellung von Erwin Wurm in der Berlinischen Galerie war, der weiß, wie peinlich und absurd das alles ist, und dass man immer ganz kur davor ist, rot zu werden. Und immer fragt man sich, wie auch bei den Porträts von Teller und Gilden, wer schämt sich mehr und warum überhaupt?

Aber was ist, wenn diese Szenen oder Themen – wie Friederike Fast schreibt – nicht unbedingt nur im Museum verhandelbar sind, wenn sie sogar woanders von KünstlerInnen verhandelt werden müssen, damit sie als Impuls für gesellschaftliche Reflexionsprozesse funktionieren? Dann ist man, wenn man wie ich hier gerade beim Thema Kunst und Scham ist, schnell bei der Frage, was Selfies mit Kunst im Allgemeinen und Feminismus im Speziellen zu tun haben. Alles nur Narzissmus? Alles nur ein Egoprojekt? Und wie lässt sich bitteschön das Patriarchat mit Selfies bekämpfen?

Im schon erwähnten Text im Zeit Magazin kommt Carolin Würfel auch darauf zu sprechen, dass Selfies den Feminismus auf Instagram zu einer Pose degradieren würden, für die, wie sie schreibt, man nur das richtige Outfit und die korrekte popkulturelle Referenz brauche. Selfies haben nichts mit Feminismus zu tun. Punkt. Stimmt nicht! Das haben sie doch. Manchmal.

Die Journalistin Charlotte Jansen hat gerade ein Buch über den weiblichen Blick in der Fotografie von Frauen vorgelegt, für das sie 40 Fotografinnen porträtiert hat. Vor ein paar Tagen sprach ich mir ihr über ihr Buch und fragte sie, was sie zum Thema Feminismus und Selfies sagt:

There is a tendency in the art world to really dismiss that selfies can’t be feminist. I totally think they can. I started out from the point of view that it can’t be and I actually had a quite fierce debate a couple of years ago about an article written about feminist selfies. I was very skeptical myself and through talking to artists, through researching it and through reading a lot about this subject I have really changed my mind about it. Our body is the only thing we have control over. The selfie gives you so much control over your own image that has previously been owned or controlled by someone else. That idea of control can be a strong feminist statement. But I am not saying that every single selfie is feminist. Of course not. But they can be used to say, this is me, this is my body. And, if I want to exploit my own body, that’s fine, I can do that; at least someone else is not exploiting it.

Welche Künstlerinnen könnten im Kapitel über Kunst und Scham über die Inszenierung des Privaten in der Öffentlichkeit erzählen und gemeinsam einen weiteren Ausstellungsraum bespielen?

Amalia Ulman

Amalia Ulman, „Excellences & Perfections“, eine Performance auf Instagram / @amaliaulman.

Ob es Amalia Ulman nun gefällt oder nicht und ob es sich nun um gute Kunst oder schlechte Kunst handelt, sie ist mit ihrer Performance Excellences & Perfections die Vorzeige-Künstlerin, wenn es um Inszenierung auf Instagram geht. Amalia Ulman inszenierte sich monatelang auf Instagram als vermeintliches Dummchen, das in der Großstadt zum Hot Babe wird, sich von einem Sugar Daddy aushalten lässt und am Ende Läuterung im Yoga findet. Dann löste sie auf: Die Erzählung vom Aufstieg und Fall eines Mädchens war reine Fiktion. Fast drei Jahre nach ihrer Entstehung wird die Performance noch immer gelegentlich diskutiert und wurde bereits in Ausstellungen gezeigt, beispielsweise in der Tate Modern, in der Whitechapel Gallery und im NRW-Forum. „Is this the first Instagram masterpiece?“ Der Telegraph möchte es wissen. Und artnet fragt, ob die sozialen Medien überhaupt einen Platz in der heutigen Museumslandschaft haben sollten. Gegenfrage: Warum eigentlich nicht? War es erst die Fotografie, die man lange nicht als künstlerisches Medium gelten lassen wollte, ist es heute ein Kanal, den Künstler wie alle anderen nutzen ­­– und da liegt viellleicht das Problem –, um Arbeiten zu zeigen. Alltag und Kunst liegen inzwischen gelegentlich so nah beieinander, dass das eine untrennbar mit dem anderen verbunden ist. (Das alles hatte ich im Januar 2016 für das Monopol Magazin aufgeschrieben, hier geht es zum Text.)

Petra Collins

Petra Collins, Untitled #07 (Selfie)

Die kanadische Künstlerin Petra Collins fotografierte wie einst Ryan McGinley, mit dem sie mittlerweile meist in einem Atemzug genannt wird, Freunde mit einer Analogkamera. Mit einem Unterschied: Petra Collins zeigt, was es für junge Mädchen heißt beziehungsweise wie es aussieht, mit Smartphones, dem Internet und sozialen Medien aufzuwachsen. „Der Erfolg von Petra Collins hat eine Reihe von Klonen hervorgebracht, wie man es von der Netflix Serie Orphan Black kennt. Nur sitzen hier die Akteure in ihren pinken Mädchenschlafzimmern, die aussehen, als hätten Hello Kitty und Prinzessin Lilifee persönlich bei der Einrichtung mitgeholfen. Und Regina Regenbogen auf ihrem Pferd Sternschnuppe hat noch mehr pinke Farbe vorbeigebracht.“ (Das habe ich ebenfalls im Januar 2016 für das Monopol Magazin aufgeschrieben, hier geht es zum Text über Petra Collins und die vierte Welle des Feminismus.)

„Wenn diese stereotype Girly-Girl-Attitüde allerdings dazu führt, dass Haare an Frauenkörpern bald genauso alltäglich sind wie der Bart im Gesicht des Filterkaffee trinkenden Hipsters, dann sollte diese vierte Welle noch ein wenig mehr überschwappen.“ So endete mein Text. Ich bin noch einer Meinung mit mir. Womit wir bei der nächsten Künstlerin wären.

Molly Soda

Molly Soda, @bloatedandalone4evr1993 auf Instagram. Körperhaare sind okay, auch bei Frauen.

Molly Soda ist nicht nur ein Beispiel dafür, dass feministische Künstlerinnen heute wie Generationen von feministischen Künstlerinnen vor ihnen immer noch für die Akzeptanz von Körperhaaren an weiblichen Körpern kämpfen müssen. Sie befasst sich beispielsweise in ihrer Arbeit auch mit Intimität in einer Zeit, in der potentiell jede private versendete Nachricht oder jedes Bild zu jeder Zeit vom Empfänger online gestellt werden könnte. Hashtag #bodyshaming!111!!1!1! Should I Send This?, so heißt ihre Arbeit aus dem Jahr 2015 und es geht genau um diese Frage, das Nacktselfie, senden oder nicht – an die flüchtige Internetbekanntschaft, an die Affäre, an den Lover oder vielleicht sogar an die beste Freundin? Molly Soda im Interview mit Dazed darüber: „This piece isn’t about me, it’s about everyone who has ever tried to achieve validation/intimacy via sending a text message, a nude …anything vulnerable using digital communication.“

Alexandra Marzella

Alexandra Marzella würde sich über solcherlei Fragen vermutlich keine Gedanken machen. Körperbehaarung findet sie natürlich auch gut, seit ein paar Jahren lässt sie sich all ihre Haare wachsen, und sie ist gern nackt. Die Künstlerin dazu im Gespräch mit Interview: „Aber die Nacktheit ist nur ein Symbol. Sie steht für den Wunsch, so angenommen zu werden, wie man ist. Von einem selbst, aber auch von der Gesellschaft. Mir geht es um ein gesundes Selbstwertgefühl, Schwesternschaft, ein Gefühl von Gemeinschaft im Allgemeinen. Was Leute von meiner Arbeit mitnehmen sollen? Ich wünsche mir, dass sie etwas über sich selbst lernen und mit dem Wesentlichen in Berührung kommen. Das, was uns ausmacht. Und das Wichtigste, sich nicht dafür zu schämen.“

Leah Schrager

Leah Schrager als Ona auf Instagram, @onaartist, 574K Follower.

Bei Leah Schrager ist die Grenze zwischen Pornografie und Kunst fließend. Ihr ist es zu wenig zu sagen: #freethenipple. Wenn Männer Nippel sehen wollen, und Instagram keine Lust darauf hat, kann sie ihre Nippel auch woanders zeigen und Männer sollen dafür bezahlen. Diese Haltung will sie aber nicht nur für sich allein beanspruchen. Aus free the nipple wird bei ihr pay the nipple – oder als Hashtag #paythenipple. Und da Instagram hier definitiv keine Option mehr ist, hat sie die Website Onagram eingerichtet, wo Männer jetzt dafür bezahlen können, wenn sie Nacktfotos von ihr sehen wollen. Sie hat 10 Gründe aufgeschrieben, warum Frauen die #freethenipple Bewegung nicht supporten sollten und warum #paythenipple die bessere Option ist. Hier entlang geht es zu ihrem Text.

Leah hat mir Fragen zu ihrem Projekt #paythenipple beantwortet, das gut läuft, wie sie sagt.

Does your plan work out to get paid? 
Yes, Onagram.com is going well! It is the artworld, however, who seems to have the most issue with #paythenipple.

Would you call #paythenipple an art project?
It’s a theory, a principle.

Is shame and body shaming something you think about?
Oh yes, I deal with it all the time. I’ve been told I’m an embarrassment to myself, my family, my community. That my photos are embarrassing and shameful. I’m told this by highly educated people, by some big figures in the art world too. It’s sad because for some people, as soon as there’s sexy or a challenge they loose all ability to judge art or think kindly or creatively. I wrote this text in 2014 titled I Make Art Not Porn: Slut-Shaming In College And Beyond. I don’t get why sexy and art can’t happily coexist, and why instead shame is thrown at women. It’s sad. And it’s so very present it’s disgusting.

How about presenting your work in a gallery space or a museum?
When I present works that have nudity in them in a gallery, I print the uncensored work on aluminum and add a removable black censor bar. This censor bar is removable only to the collector - so the collector can chose whether to leave the censor bar on the work as a multimedia work, or remove it to reveal the nudity underneath. I like the tension this creates in the artwork, and the choice/interactivity with the collector that the artwork becomes.

I’ve had curators and even some of my collectors not like this approach. And some love it! I believe it’s empowering, it allows the nudity to be exchanged on my own terms, and allows me to be compensated for it.

Wer würde jetzt gerne durch diesen Ausstellungsraum laufen? Handzeichen, bitte!

Epilog: Als ich mich kürzlich mit einem Bekannten auf ein Glas Cola in einem Café traf, erzählte ich ihm, dass ich an einem Text über das Thema Scham schreibe und dass ich mit einem Erfahrungsbericht einsteige, der sicherlich viel zu pathetisch ist. Er sagte, ich solle unbedingt damit enden, dass ich mir vorgestern meinen ersten Rock, seit meiner Grundschulzeit, gekauft habe. „Awwwww“, seufzten wir beide gleichzeitig. Das stimmt natürlich nicht, also, dass ich mir einen Rock gekauft habe. Es war ein Kleid. Auch nicht. Jedenfalls erzählte er mir, er arbeitet als Betreuer mit Jugendlichen, dass ein Mädchen in seiner Gruppe eine Geschichte über ein Mädchen mit dünnen Beine, mit chicken legs, geschrieben habe. Eines Tages, so Emilys Geschichte, habe sie so viel Hunger gehabt, dass sie ihre Beine gegessen habe. Weil: chicken legs. Zu viel Hunger hatte ich nie. Mitte Juni steht ein Treffen mit dem Abijahrgang an. Vielleicht gehe ich nicht hin.

 

(1) An dieser Stelle kann ich das Kapitel Drei (und selbstverständlich alle weiteren acht Kapitel) aus Andi Zeislers Buch Wir waren doch mal Feministinnen. Vom Riot Grrrl zum Covergirl. Der Ausverkauf einer politischen Bewegung empfehlen. „Machen Omas Schlüpfer eine Feministin aus mir?“, fragt sie.
(2) Annekathrin Kohout hat ein kleines Body-Positive-Hashtag-Lexikon verfasst:
Body-Positive-Hashtag-Lexikon
(3) Friederike Fast: Die Scham liegt im Auge des Betrachters, in: Essay. Die innere Haut, Publikation zur Ausstellung Die innere Haut. Kunst und Scham, Marta Herford 2017, S. 2, 4, 14.f.

Die Ausstellung Die innere Haut: Kunst und Scham läuft noch bis 4. Juni 2017. Der Text ist im Auftrag des Museums entstanden (sponsored post). 

Titelbild: Isabelle Wenzel, Field. Aus dem Buch Girl on Girl. Art and Photography in the Age of the Female Gaze von Charlotte Jansen. 

2 Kommentare

  1. Pingback: 5 Fragen an Anika Meier - Marta-Blog

  2. Richtig! So wie das Internet eine demokratische Plattform und zugleich erfolgreiches Propaganda-Instrument sein kann und wie Emotionen sowohl positive Effekte haben oder aber zu negativen Zwecken (s. Donald Trump) instrumentalisiert werden können, kann auch die Selfie-Kultur sehr unterschiedliche Wirkung zeigen: zwischen Narzissmus und Exhibitionismus, zwischen bloßer Pose, die traditionelle Körper- und Rollenbilder einfach nur bestätigt und (feministischem) Widerstand die Grenzen zu ziehen, ist manchmal schwierig. Denn in dem Moment als Madonna zum Beispiel auf Instagram ihre Axelhaare entblößte, setzte sie damit bereits wieder einen neuen Trend. Das, was gerade noch ein Tabu war und als ekelig galt, wurde plötzlich wieder akzeptabel.

    Nicht nur aber auch (!) im Museum kann vieles gezeigt werden, was andernorts strengeren Regeln unterworfen ist. So können KünstlerInnen als eine Art Katalysatoren gesellschaftlicher Prozesse dienen. Die besondere Qualität der Kunst liegt in meinen Augen aber nicht nur darin, Tabus zu brechen, sondern auch den Topos der Scham aufzugreifen und das Unsichtbare und Unaussprechliche in Bilder zu fassen. Ob der Betrachter in die Rolle des lustvollen Voyeurs schlüpft oder berührt ist, ob es ihm völlig egal ist oder er sich gar provozieren lässt, hängt dabei sehr stark von seinen persönlichen Erfahrungen ab. Die persönlichen Erinnerungen sind daher der beste Anknüpfungspunkt, um die Ausstellung „Die innere Haut – Kunst und Scham“ im Marta Herford anzusehen (noch bis zum 4. Juni 2017!!!). Danke dafür!

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