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Reality Check

Das neoklassizistische Kulturhaus Mestlin ist Zentrum eines Gebäudeensembles, durch dessen Bau der Ort Mestlin in Mecklenburg-Vorpommern seit 1952 zu einem sozialistischen Musterdorf umstrukturiert worden war. Wer hätte gedacht, dass so viele Parallelen zwischen diesem Gebäude und dem mittlerweile abgerissenen Palast der Republik in Berlin bestehen? Die Ausstellung Lückenstücke. Palastkunst im Musterdorf, die zur Zeit im Kulturhaus Mestlin zu sehen ist, deckt diese Parallelen auf. Konzipiert und erarbeitet wurde sie von Studierenden des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Rahmen des Seminars Reality Check. Aufgaben des Kunsthistorikers in der musealen Praxis wurde 15 Studenten die Möglichkeit gegeben, selbst eine Ausstellung zu erarbeiten und umzusetzen. Geleitet wurde das Seminar von Christina Thomson, die als freiberufliche Kuratorin in Berlin an erfolgreichen Ausstellungen wie beispielsweise Das Universum Klee mitgewirkt hat.

Landschaftsgemälde aus den Konferenzräumen des Palasts der Republik

Als Ausgangspunkt gab es lediglicheinen Auftrag und eine Idee: Ein Verein aus Mecklenburg-Vorpommern wollte ein DDR-Kulturhaus in dem kleinen Ort Mestlin wieder beleben und hatte bei Christina Thomson angefragt, ob sie zu diesem Zweck eine Ausstellung konzipieren würde. Es bestünde die  Möglichkeit Kunstwerke zu leihen, die  bis 1989/1990 in den Konferenzsälen des Palastes der Republik in Berlin gehangen hatten und dann seit der Wende im Depot verwahrt wurden.

Umgang mit dem kulturellen Erbe

Anfangs erschien uns dieses Projekt utopisch. Es stand kein Geld zur Verfügung und bis zur geplanten Ausstellungseröffnung waren es nur drei Monate. Trotzdem wollten wir es versuchen, nicht zuletzt, da es eine der seltenen Gelegenheiten war, bereits im Studium praktische Erfahrungen zu sammeln. Zunächst galt es zu recherchieren, Informationen über das Kulturhaus Mestlin einzuholen und über die Kunst, die einst im Palast der Republik gezeigt wurde. Auch mit der politischen Komponente ‒ der Brisanz der Palastabrissfrage und der Diskussion um den Umgang mit DDR-Kulturgut im 20. Jubiläumsjahr des Mauerfalls ‒ mussten wir uns nun intensiv auseinandersetzen. Bald wurde klar, wie viel Potential sich hinter dem Projekt verbarg, und dass zahlreiche Parallelen zwischen dem dörflichen Kulturhaus Mestlin und dem Palast der Republik in der Hauptstadt bestehen.

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands vor 20 Jahren sind Lücken entstanden, die in den Augen vieler bis heute nicht geschlossen sind. Der Palast der Republik und das Kulturhaus Mestlin sind zwei Ausprägungen sozialistischer Kulturpolitik, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten; und doch sind beide Zeichen für einen vielerorts von Unsicherheiten bestimmten Umgang mit dem kulturellen Erbe.

Wichtig war es uns, die Leerstellen aufzuzeigen, die mit der eiligen Wiedervereinigung Deutschlands entstanden sind. Studentin Elisa Dierson: „Wir möchten die deutsche Erinnerungskultur mitgestalten. Das ist konstruktiv und bringt viel mehr als Gleichgültigkeit und Zerstörung! Nur wenn wir uns bewusst mit der DDR Vergangenheit auseinandersetzen, verhindern wir, dass dieser prägende deutsche Geschichtsabschnitt verdrängt oder glorifiziert wird.“ Ihre Kommilitonin Katharina Bürger betont: „Wir wollen keine Aufbauarbeit der sozialistischen Kultur betreiben, sondern uns lediglich dokumentarisch mit einem Abschnitt der Architektur- und Kunstgeschichte beschäftigen, der im öffentlichen Verständnis in den Hintergrund gerückt ist. Wir wollen auf das Potenzial der verbliebenen Stücke einer vergangenen Kultur hinweisen.“

Symbole des Arbeiter- und Bauernstaates

1957 wurde das Kulturhaus nach knapp vierjähriger Bauzeit eingeweiht. Wöchentliche Theater- und Filmveranstaltungen, Ausstellungen, Konzerte und Erntefeste machten es zum kulturellen Zentrum seiner Region, das Ende der 80er Jahre 50.000 Besucher jährlich zählte. Mehr noch als das Kulturhaus Mestlin wurde der Berliner Palast der Republik zum städtebaulichen Symbol des „Arbeiter- und Bauernstaates“ der DDR. Mit seiner architektonischen Ausstrahlungskraft symbolisierte er seit seiner Fertigstellung im Jahr 1976 die neue Staatsmacht der DDR. Ausstellungen und Theatervorführungen, nicht zuletzt aber auch die Restaurants, die Milchbar, das Eiscafé, die Diskothek und Bowlingbahnen machten ihn zum beliebten Anziehungspunkt. Wie der Palast der Republik verlor das Kulturhaus Mestlin im wiedervereinten Deutschland seine Funktion. Es wurde seit 1990 als private Großraumdiskothek genutzt, bis die Betreiber es 1996 in schlechtem Zustand hinterließen. Während das Kulturhaus in der Peripherie vergessen fortbesteht, wurde der Palast der Republik von 2006 bis 2008, im Zentrum kulturpolitischer Kontroversen und medialer Aufmerksamkeit, abgetragen.

Begegnung mit den Relikten der Vergangenheit

Da der Gemeinde Mestlin keine finanziellen Mittel für den Erhalt des musterdörflichen Ensembles zur Verfügung stehen, gründete Peter Enterlein mit zehn weiteren engagierten Mestlinern den gemeinnützigen Verein „Denkmal Kultur Mestlin e.V.“ Ziel ist, das denkmalgeschützte Kulturhaus in Eigenarbeit stückweise zu sanieren und parallel dazu kulturelle Veranstaltungen zu initiieren.

Als Peter Enterlein uns durch das Gebäude führte, wurde schnell klar, dass dieses selbst den Wert eines Ausstellungsobjekts hat. Überall begegneten uns Relikte der DDR. In den Kellerräumen stießen wir auf einen Raum mit Bergen von sozialistischer Propagandaliteratur. In einem Raum im Obergeschoss standen Informationstafeln zum 9. Parteitag der SED aus dem Jahr 1976. „In dem Gebäude ist noch viel DDR-Geschichte konserviert. Wenn man von dieser Vergangenheit umgeben ist, dann versteht man umso besser, dass all das nur Bruchstücke sind und dass die Kulturgüter der DDR heute immer lückenhafter werden“, bemerkt Studentin Anne Scheinhardt. Es wurde die Entscheidung getroffen, der Dokumentation des Kulturhauses Mestlin größeren Platz einzuräumen als im ursprünglichen Ausstellungskonzept vorgesehen. Die dort gefundenen Reststücke aus der DDR mussten genauso aus ihren Verstecken geholt werden wie die Berliner Palastkunst aus dem Depot. Auch die Räume, die während der Ausstellung nicht zugänglich sein sollten, waren zu eindrucksvoll, um sie den Besuchern vorzuenthalten. Es gelang uns, den Fotokünstler Thomas Kemnitz, der sich auf Architekturfotografie spezialisiert hat, für das Projekt zu gewinnen. Er fotografierte das Kulturhaus und stellte die entstandenen Werke für die Ausstellung zur Verfügung, so dass nun auch der Bücherraum, das Kohlelager, ein Duschraum und der riesige Bühnenraum für den Ausstellungsbesucher erfahrbar wurden. Da durch diese Fotoarbeiten eine zeitgenössische Komponente Einzug in das Ausstellungskonzept erhalten hatte, lag es nahe, diese auch auf den Palast der Republik auszuweiten.

Reststücke der DDR-Kunst

Nachdem das Konzept stand, galt es die Ideen umzusetzen. Wissenschaftliche Recherche, Kommunikation mit Künstlern und Ausleihe von Kunstwerken, Textredaktion, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und die Hängung der Werke erforderten den persönlichen Einsatz aller Beteiligten und eine gut koordinierte Zusammenarbeit der gesamten Gruppe. Anfang Juli war das Resultat der harten Arbeit zu sehen.

Fotografien von Thorsten Klapsch

Es war weit mehr bewerkstelligt worden, als zu Beginn des Seminars möglich schien; es ist uns gelungen, die vielen interessanten Aspekte des Projekts zu einem informativen Ganzen zu verschmelzen, Kunstwerke aus verschiedenen Zeiten und Gattungen in einen gemeinsamen Kontext zu stellen und anhand zweier auf den ersten Blick unterschiedlicher Bauwerke ein Stück DDR-Geschichte zu dokumentieren. Rund 30 Kunstwerke, die vor 1989 Räume des Palasts der Republik in Berlin schmückten, wurden nach Mestlin geholt. Die Landschaftsgemälde und Druckgrafiken – darunter Arbeiten von damals bekannten, heute zum Teil kaum noch beachteten DDR-Künstlern wie Fritz Cremer, Lea Grundig, Harald Metzkes, Karl-Herrmann Roehricht, Karl-Erich Müller, Rudolf Austen und Werner Wittig – werden wissenschaftlich aufgearbeitet und in eine ausführliche Dokumentation zur Geschichte und Funktion der beiden Kulturhäuser eingebunden. Der Raum, in dem sich die Gemälde befinden, stellt Fragen zum Bild einer „sozialistischen Heimat“. 12 Künstler aus der DDR hatten den Auftrag die Konferenzräume des Palasts der Republik mit Spiegelbildern der heimatlichen Landschaft zu schmücken. So entstanden 44 großformatige Landschaftsbilder, die einerseits mit leisem Heimatstolz die Natur und die menschlichen Machwerke veranschaulichen, andererseits gelegentlich auch an gezielter Stelle die Idylle zu hinterfragen scheinen. Karl-Herrmann Roehrichts Blick auf das petrolchemische Kombinat beispielsweise zeigt eine vermeintlich idyllische Landschaftsszene, die durch kritische Bildkommentare in Form von rauchenden Schornsteinen, bedrohlichen Wolken und herumliegendem Müll unterlaufen wird. Roehricht wurde in den 1970er Jahren vergeblich von der Stasi beworben und schließlich bespitzelt und schikaniert. Auch das Gemälde Die Saale von Karl Erich Müller zeigt eine Naturlandschaft, bei der am Horizont Schornsteine und Industriebauten sichtbar sind.

Mit Hilfe einer Beamer-Projektion werden in diesem Raum zudem alle weiteren Gemälde gezeigt, die sich damals zumeist in den Konferenzsälen im Palast der Republik befanden und heute als Dauerleihgaben in staatlichen Ämtern oder in kleineren Museumssammlungen verwahrt werden. Dadurch wird verdeutlicht, dass es sich bei den ausgestellten Werken eben nur um „Reststücke“ der DDR-Kunst handelt.

Der Grafikraum hebt die hohe Stellung grafischer Kunst in der DDR und das enge Zusammenspiel der darstellenden mit den performativen und literarischen Künsten hervor. Fritz Cremers Fragen eines lesenden Arbeiters nimmt Bezug auf Bertolt Brechts gleichnamiges Gedicht und setzt dem Proletariat in Gestalt eines monumental wirkenden Arbeiters ein Denkmal. Ganz im Sinne Brechts war es Cremer stets ein Anliegen, sich mit seiner Kunst politisch auszudrücken und zum selbstständigen Denken aufzufordern. Arno Fleischer würdigt mit  seinem Holzschnitt Berliner Ensemble ebenfalls Bertolt Brecht, indem er sein Portrait umgeben von Figuren aus seinen Theaterstücken darstellt. Eva-Maria Viebegs Grafikserie Die letzten Tage (Puschkin) basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Michail Bulgakow und illustriert die letzten Tage des russischen Dichters Puschkin. Das Zusammenwirken von Literatur, Theater und Grafik spiegelt das kulturelle Angebot im Palast der Republik wider. In der zum Theater im Palast gehörenden Galerie TiP wurden regelmäßig wechselnde Grafikausstellungen gezeigt. Somit fand im Palast der Republik Bertolt Brechts Drama Mutter Courage ebenso seinen Platz wie die Werke des russischen Literaten Puschkin und die Inszenierung des Berliner Ensembles.

Ästhetik des Verfalls

Von der Bildhauerin Takwe Kaenders neu zusammengesetzte Marx-Büste

Die historische Aufarbeitung des Palasts der Republik und des Kulturhauses Mestlin wird um eine zeitgenössische Komponente erweitert. Die Bilder des Fotografen Thomas Kemnitz, der das Kulturhaus fotografiert hat, bilden im großen Eingangsfoyer den Auftakt der LückenStücke. Im Kulturhaus Vorgefundenes ist auch das Material einer Arbeit der Bildhauerin Takwe Kaenders, die eine zerschlagene Marx-Büste aus dem Keller des Hauses neu zusammengesetzt hat. Die Dokumentation eines durch unsachgemäße Zwischennutzung verlorenen Foyer-Wandgemäldes von Vera Kopetz steht emblematisch für die titelgebenden Lücken, die durch den seit 1990 praktizierten Umgang mit DDR-Kulturgut entstanden sind. Eine Stadtansicht von Walter Womacka führt im Obergeschoss den Palast der Republik im urbanen Kontext seiner Entstehungszeit ein.

Künstlerische Positionen aus den letzten fünfzehn Jahren lassen die Faszination erkennen, die der Übergangs- und Schwebezustand des Palasts der Republik zwischen Schließung und Abriss ausgeübt hat. Thorsten Klapsch war einer der ersten, der die Räume des Palasts nach 1990 fotografisch festhielt. Hansjörg Schneider setzt die stückweise Demontage des Gebäudes in filigrane Scherenschnitte um, während Barbara Schnabel den Abrissprozess zum Thema ihres Videos reset macht und in Fotoarbeiten die Ästhetik des Verfalls zelebriert. In ihrer Fotoserie Die verschwundenen Bilder spürt Margret Hoppe Leerstellen auf, die durch das Entfernen von Kunst aus öffentlichen Räumen entstanden – ein Inventar stiller Tatorte des Auslöschens von Erinnerung.

Keine Patentlösung

Durch die gemeinsame Präsentation von DDR-Kunst und Post-Wende-Kunst werden Dialoge und Vergleiche auf unterschiedlichen Ebenen angeregt. Die Metropole wird neben die Provinz gestellt, das Gestern neben das Heute, alte Lücken neben neue Potentiale. Es stehen sich Symbole und Versatzstücke von Idyll und Wirklichkeit „blühender Landschaften“ und des einstigen sozialistischen Gesellschaftssystems der DDR gegenüber.

Am 11. Juli fand die Eröffnung der Ausstellung statt, zu der 200 Gäste erschienen. Neben Besuchern aus der Region, die sich freuten das Kulturhaus endlich wieder mit Leben gefüllt zu sehen, waren auch viele von auswärts auf die Ausstellung aufmerksam geworden und zur Eröffnung erschienen. In den ersten zwei Wochen kamen pro Öffnungstag rund 50 Besucher zu den LückenStücken, womit Mestlin derzeit so viel Aufmerksamkeit erfährt wie schon seit Jahren nicht mehr.

Die Ausstellung bietet keine Patentlösung zur Füllung historischer Leerstellen, versteht sich aber als Anstoß zum Nachdenken und als positives Signal für die Zukunft. Was die viel versprechende Zukunft des Kulturhauses Mestlin betrifft, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan, wenn sich das Haus für junge Gäste von außerhalb öffnet. Für uns angehende Kunsthistoriker bot das Projekt die großartige Möglichkeit, schon während des Studiums Erfahrungen im Bereich der Ausstellungsorganisation zu sammeln.

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