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„Ich sehne mich halbtot nach Dir!“

Im Laufe ihres Studiums erlernen Germanistik-Studenten das Handwerk zur Analyse und Interpretation von Texten. Von einem Text sprechen wir im Allgemeinen dann, wenn eine inhaltlich zusammenhängende Folge von Aussagen vorliegt. Was aber tun wir, wenn die geschriebene Wortfolge von dieser Minimaldefinition abweicht, sich der Sinn des Geschriebenen unserem Verständnis entzieht?

Mit diesem Problem sah sich eine Gruppe von Studenten des Germanistischen Seminars in Heidelberg konfrontiert. Seit nunmehr vier Semestern beschäftigen wir uns im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „Briefe der Sammlung Prinzhorn“ mit Texten, die aus einem uns durchweg unvertrauten Milieu stammen: der Psychiatrie.

Als der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886-1933) in den 1920er Jahren begann, bildnerische Werke von „Geisteskranken“ zusammenzutragen, um sie unter kunstwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu analysieren, formierte sich in Heidelberg eine Sammlung, die einzigartig in der Welt ist: Gemälde, Zeichnungen, Collagen und Skulpturen, die zwischen 1880 und 1920 in psychiatrischen Anstalten entstanden, bilden die mittlerweile international bekannte Sammlung Prinzhorn. Durch die Pionierarbeit des Assistenzarztes gelangten aber nicht nur Kunstwerke nach Heidelberg. Die Krankenakten, die Prinzhorn aus verschiedenen Kliniken zugingen, enthielten auch private Briefe der Patienten. Es sind Bitt- und Drohbriefe, Liebesgeständnisse und Hilferufe. Manche schildern das Anstaltsleben, andere offenbaren Sehnsüchte und Leid, wieder andere Wünsche und Reglementierungen. Bis heute sind diese der Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt.

Abgeschoben

Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen private Briefe von Patienten psychiatrischer Anstalten.

Diesen brisanten Zeugnissen hat sich unsere Ausstellung „Vor allen Dingen bitte ich, mich doch ja nicht zu vergessen“ verschrieben, die als Ergebnis des Forschungsprojekts zur Zeit in der Heidelberger Peterskirche zu sehen ist. „Die Möglichkeit, ein Seminar anzubieten, das sich mit den Texten der Sammlung beschäftigte, bot sich an, als am Germanistischen Seminar eine Studiendozentur ‚Literatur und Medizin / Psychiatrie‘ eingerichtet wurde“, erläutert die Heidelberger Professorin Karin Tebben, die das Projekt leitet. Bereits im Jahr 2009 hatte sie zusammen mit Studenten der Germanistik eine Ausstellung zu literarischen Texten der Sammlung realisiert. Auch diese waren „zunächst nur eine ‚Begleiterscheinung‘ der bildnerischen Werke, die auf Prinzhorns Zuruf ihre Reise nach Heidelberg antraten.“

Anders als bei der Ausstellung vor zwei Jahren stehen jetzt die Briefe im Mittelpunkt. Wir haben es also mit Texten zu tun, die an einen bestimmten Adressaten gerichtet sind und durch ihre Mitteilung ein konkretes Ziel verfolgen. Dieses Ziel ist mit dem programmatischen Titel, unter dem die Ausstellung steht, gut beschrieben: Die Angst, hinter den Anstaltsmauern vergessen zu werden, ist groß. Und sie war nicht unbegründet: In der Zeit um 1900 wurden psychisch kranke Menschen entweder in der Familie versteckt oder aber in „Irrenkliniken“ abgeschoben. Nicht selten wurde der Kontakt mit den kasernierten Angehörigen aus Familienräson gemieden. So schienen die Briefe der einzige Weg, um gegen das Vergessenwerden anzukämpfen.

Briefe ins Nichts

Die im Ausstellungstitel formulierte inständige Bitte stammt aus einem Brief der Patientin Margarete Kuskop. Sie schreibt an Alice, eine Klinikbekanntschaft, die gerade aus der Anstalt entlassen wurde und nach Hause nach Dresden durfte. Aus Margaretes Zeilen spricht eine massive Furcht vor der Vereinsamung in der Isolation. Ihr Brief ist einer von vielen, die wir im Archiv der Sammlung Prinzhorn vorfinden. Warum er dort liegt und nicht etwa im Nachlass der Familie von „Fräulein Alice“, wollen wir wissen. Die Antwort ist schnell gefunden: Er kam nie in Dresden an. Die Räume der Klinik hat er nie verlassen – das Schicksal fast jeden Briefes, der dort verfasst wurde. Die Klagen, Bitten und Hilferufe sind in den Krankenakten erstickt, wo man sie einsortierte, anstatt sie abzuschicken. In den Augen des damaligen Anstaltspersonals waren es Anliegen von einfachen Idioten, von Kretins und asozialen Persönlichkeiten, von Menschen, denen Schizophrenie, Dementia praecox oder Oligophrenie diagnostiziert wurde. Ihre Äußerungen wurden als Ausdruck des Wahnsinns gewertet und in der Regel nicht ernst genommen. Der Umstand, dass die Briefe ihre Adressaten nie erreicht haben und zwangsläufig unbeantwortet bleiben mussten, macht ihre Tragik aus.

Ein Thema mit doppelter Optik

Als wir im Herbst 2009 mit den Vorbereitungen für die Ausstellung begannen, galt es zunächst, aus der Fülle von Briefen eine Auswahl zu treffen. Nach Sichtung der Manuskripte folgte bald die Einsicht, dass eine eindeutige Gattungsgrenze bei pathologischen Texten schwer zu ziehen ist. Nicht immer werden die formalen Kriterien erfüllt, die wir für gewöhnlich bei einem Brief erwarten. Wir haben die Definition von Brief schließlich weiter gefasst. „Denn auch Deklarationen, Gebete und Verkündigungen reden ein Gegenüber an, das im Wort präsent gehalten wird“, argumentiert Gregor Babelotzky, der das Projekt mitbetreut. Manche der Briefe fielen bereits durch ihr auffälliges Schriftbild ins Auge, andere durch Zeichnungen oder ihr ungewöhnliches Format. Entscheidend war aber in erster Linie nicht die Optik, sondern der Inhalt. Auf die Sichtung und Auswahl folgte schließlich die Transkription der Texte. So individuell wie die Briefthemen waren auch die Schriftbilder, die manchen Transkribenten vor schier unlösbare Aufgaben stellten. Unumgänglich war in vielen Fällen eine Einarbeitung in die deutsche Kurrentschrift, die zu dieser Zeit gebräuchlich war.

Eine größere Herausforderung war jedoch der Umgang mit den Inhalten. Die literarische Phänomenologie der Briefe psychisch kranker Menschen birgt zahlreiche Fallstricke. Frau Tebben:

„Durchgehend wird mit einer doppelten Optik gearbeitet, mit der historischen der Entstehungszeit und mit der aktuellen des gegenwärtigen Wissens.“

Mit dieser Einsicht ausgestattet, versenkten wir uns in eine Welt, die so diffus wie spannend ist. Überaus eigenwillige und verquerte Perspektiven taten sich auf. Es gab Texte, die uns durch ihre erstaunliche Gefasstheit und Rationalität überraschten, und wieder andere, in denen uns der Wahnsinn offen entgegentrat. „Die Ordnung im ‚Ver-rückten‘ und die Wahrheit in der Imagination machten die Lektüre der Briefe besonders interessant“, bemerkt Student Moritz Barske. Dass „Wahnsinn oder Normalität absolut relative Zuschreibungen von außen“ sein können, gibt seine Kommilitonin Natascha Studt zu bedenken. „Die Briefe zeigen menschliche Gefühle der Ohnmacht und Nöte, die wir alle in vergleichbaren Situationen hätten.“

 

In der Not erfinderisch

 

Für die rund 45 Exponate der Ausstellung mussten sinnvolle Kategorien gefunden werden. Nach der Analyse und Deskription der Texte stellte sich eine thematische Anordnung als naheliegend heraus. Wir ordneten die Briefe acht Gruppen zu: Alltagsnöte, Familie, Glaube, Projekte, Sehnsucht, Obrigkeiten, Eigenwelten und Auswege. Unter der Kategorie Alltagsnöte finden wir Briefe, die erkennen lassen, dass es den Patienten häufig an den einfachsten Dingen wie Rasierpinseln, Stiften, Papier oder gar an persönlicher Kleidung mangelte. Es sind vor allem Beschwerdebriefe, die sich nicht nur an die Angehörigen, sondern auch an das Klinikpersonal, an Ärzte oder Anwälte richten.

Eine Vitrine versammelt ausschließlich Mitteilungen an die Familie, in denen die Briefeschreiber ihre Verwandten dazu motivieren, sich für ihre Freilassung einzusetzen. Die Strategien sind unterschiedlicher Art: Anklagen, Schmeicheleien, Originalität, Drohungen und Versprechungen.

Für viele Insassen einer psychiatrischen Klinik ist der private Glaube wichtig, da er ihnen Kraft und Halt gibt und es ihnen erleichtert, das oft monotone und entbehrungsreiche Leben in der Psychiatrie zu meistern. Oft sprechen die Verfasser Gott direkt an, um Rat und Beistand zu bekommen, eine Begründung für ihre Lage zu erfahren oder einen Ausweg zu erflehen. Manche drücken die Hoffnung aus, von Gott eines Tages das an ihnen begangene Unrecht gesühnt zu sehen.

Einige der Patienten der Psychiatrischen Kliniken stellen in Briefen an öffentliche Instanzen ihre Projekte vor. Diese umfassen beispielsweise den Bau von Brunnen und Brücken zur Völkerverständigung, den Entwurf einer Briefmarke zur Imageverbesserung des deutschen Volkes und den Vorschlag für eine patientenfreundlichere Zwangsjacke. Es geht aber auch um Erfindungen und Ideen wie ein Amphibienfahrzeug, um Fluggeräte und ein Luft-Licht-Sonnenbad. Die Projekte sollen somit auf gewisse Weise die Welt verbessern, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Anstalten. Dadurch wollen die Briefeschreiber wieder aktiv und somit als mündige Personen am gesellschaftlichen Leben teilhaben.

Maria Kraetzinger bittet um die Befreiung aus der Klinik, in der sie sich „halbtot“ nach Gustav sehnt.

In der Kategorie Sehnsucht spielt das Verlangen nach erfüllter Zweisamkeit und Sexualität eine besondere Rolle. Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Sexualität der Insassen der psychiatrischen Anstalten tabuisiert. Die strikt nach Geschlechtern getrennte Unterbringung in der Anstalt erlaubt keine körperlichen Kontakte, ebenso bietet sich keine Möglichkeit, mit Besuchern außerhalb der Anstalt intim zu werden. Viele Insassen empfinden die Trennung von ihrem Ehepartner als besonders bedrückend.

Unter der Überschrift An die Obrigkeit werden Briefe zusammengefasst, die von der stark hierarchisch geprägten Gesellschaft des Kaiserreichs zeugen. Sie lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: Zum einen existieren Briefe, die sich an eine konkrete Obrigkeit richten, beispielsweise an die Anstaltsleitung, die Staatsanwaltschaft oder die Staatsführung. Zum anderen stellen wir Briefe aus, in denen sich die Schreiber selbst zu fiktiven Obrigkeiten erklären und sich eine Machtposition schaffen, wie etwa durch einen selbst verliehenen Adelstitel.

Texte unter dem Stichwort Eigenwelten zeichnen sich durch die große Phantasie und die Kreativität ihrer Verfasser aus. Eigenwelten beschreiben die von Verhaltensnormen und Lebenswelten abweichenden Ausdrucksformen. Einige Patienten der Anstalten versuchten, sich durch Eigenkreationen all das zu schaffen, was ihnen fehlt: Freiheit, Macht oder Kontakt zu unerreichbaren, geliebten Personen. Die Briefe haben eine große Bandbreite: fiktive Abenteuer in der Nachfolge Sven Hedins, selbsternannte Doktoren, ungewöhnliche Sprachformen und erfindungsreiche Ausdrucksmöglichkeiten wie in spiritistischen Sitzungen. Diese Eigenwelten genügen sich nicht selbst und versuchen, Kontakt mit ihrer Umgebung aufzunehmen. Sie schwanken so zwischen extremer Selbstbezogenheit und Versuchen der Kommunikation mit der Außenwelt.

 

Auswege sind das Thema der letzten Vitrine. Hinter jeder Suche nach einem Ausweg steht der Wunsch, die Klinik verlassen zu können. Um diesem Ziel näher zu kommen, setzen die Patienten ihre individuellen Fähigkeiten ein und versuchen mittels Briefen Kontakt zu Verbündeten, zum Beispiel Familienangehörigen, zu knüpfen. Die Briefe stellen den eigenen Wert und Nutzen für die Gesellschaft dar, der es dem Patienten ermöglichen soll, in dieser wieder Fuß zu fassen. Hier aber offenbart sich bereits die Ausweglosigkeit, denn die Briefe haben den gewünschten Adressaten nie erreicht: Eine Auswegsuche, die ins Leere ging und im Ausweglosen bleibt.

„Liebe heilige Anna! Ich handle mit Nasenpopel“

Liebe Tante der erschreckliche Zug der unruhe gefällt mir nicht
an Frenessen, der praktische Sinnlichkeit und persönliche
Lebenserfahrung in nicht geeigneter Weise besitzt
Du kannst mich anöden aber nicht
allzulange. Die Sache ist die : –. !, ?–:/, Nein;
oder vielmehr abgrund
Ich beabsichtige mir ein Haus
in der Einsamkeit
des Waldes zu bauen.
[…]

(Auszug aus einer Postkarte von Wilhelm Müller)

Der Brief von Wilhelm Müller ist das Paradebeispiel für einen Text, der sich unter der eingangs erwähnten Minimaldefinition nicht fassen lässt. Vielmehr scheint er eigenen, inneren Zusammenhängen zu folgen, die wir in der Rückschau und Außensicht nicht zu begreifen vermögen. Signifikant ist aber die geäußerte Absicht, sich ein Haus im Wald bauen zu wollen. In diesem Plan kommt der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit zum Ausdruck, der allen Verfassern gemein ist. In manchen Fällen gerät der Freiheitswunsch zur Drohgebärde. So zum Beispiel bei Erwin Starré, der seine Familie warnt:

Falls nicht bis heute Abend von hier weggeholt bin, werde bis morgen als Wahnsinniger, auf heiligstes Ehrenwort die Sonne anstieren, oder schlage mir an einem Pfosten die Schläfe ein. Entweder, oder!

Eine andere Strategie verfolgt Ernst Brunner, der laut Krankenakte wegen Dementia praecox („vorzeitige Verblödung“) einsitzt. Um die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu gewinnen, überlegt er sich einen besonderen „wids“, der in der Erfindung einer eigenen Orthografie besteht. Da eine Reaktion seitens der Familie ausbleibt – sie hat ja den Brief nie erhalten –, droht Brunner, noch immer an seiner Innovation festhaltend, sich von ihr loszusagen:

îch bîn undsufrîden
îch habe gude lusd
mîch fon oîch für
îmer losdsusagen
îch werde embhêrend
fernachlêsîgd.
Ernsd Brūner.

Schriftstücke wie das von Ernst Brunner haben in uns ambivalente Gefühle produziert. Einerseits ist der Inhalt tragisch, andererseits faszinieren die äußere Form und die Idee, die dahinter steckt. Einige Äußerungen liest man indessen nicht ohne Schmunzeln. Wenn zum Beispiel Josef Grebing in seinem Brief an den Vater unvermittelt schreibt Liebe heilige Anna! Ich handle mit Nasenpopel, gibt es niemanden, der mit ernster Miene darüber hinweg lesen kann.

In Freiheit frisiert, in der Psychiatrie paralysiert , so sieht sich Patientin Maria Puth.

Der Brief der Patientin Maria Puth hingegen lässt unsere Miene wieder erstarren. Dem Adressaten Ihrer Mitteilung, Onkel Pius, gesteht sie: Wenn ich am lautesten lache, möchte ich oft am stillsten weinen. Sie klagt über Herzschmerzen und über die Qual, die sie durch den zwangsweisen Freiheitsentzug erleidet. Auf der ersten Seite ihres Schreibens prangt eine kleine Porträtzeichnung, die sie mit dem Satz kommentiert: So wie ich mich gezeichnet habe, Rosa in Grau kann ich nie werden. Ihre Seele sei zu unruhig, seit sie in der Klinik ist. Mit ihrem Innenleben leidet auch ihr Äußeres. Sie malt sich mit rot geschminkten Lippen, wachen Augen und frisiertem Haar. Das greisenhafte Porträt daneben scheint ihren momentanen Zustand wiederzugeben: blass, paralysiert und lebensmüde. Ich strecke nächstens die Waffen, endet sie resigniert. „Die Lektüre der Briefe war häufig recht traurig“, erinnert sich Studentin Katharina Grünke und meint damit besonders solche, in denen Patienten keinen anderen Ausweg mehr sehen, als aus dem Leben zu scheiden.

Eine Serie von Bittbriefen verfasst Maria Kraetzinger. Im Abstand von wenigen Wochen wendet sie sich mehrfach an Gustav, den sie ihren „König“ nennt. Mit den zärtlichsten Worten erfleht sie sein Kommen und die Befreiung aus der Klinik, in der sie sich „halbtot“ nach ihm sehnt. Was sie nicht weiß: Für ihren unfreiwilligen Aufenthalt ist Gustav verantwortlich.

„Glanz-Perioden“ in der Anstalt: Friedrich Fent resümiert die vergangenen 52 ½ Wochen.

Mit ausgesprochener Kreativität und Ironie begegnet uns Friedrich Fent in seinem Brief an den Oberarzt. Der Patient, der laut Krankenakte an Schizophrenie erkrankt ist, zählt zum Beweis seiner geistigen Gesundheit und Erinnerungsfähigkeit die bisherigen Stationen seines Klinikaufenthalts auf. Die Liste dieser „Glanz-Perioden“, wie er sie nennt, macht uns auf die verschiedenen Behandlungsmethoden aufmerksam, die damals mit therapeutischem Ziel angewendet wurden: Durch Isolierzelle, Wachsaal, Dauerbad, Medikamente, Fixierung oder willkürlich ausgeübte Gewalt seitens oft schlecht oder nicht ausgebildeter Pfleger wurden die Patienten unter Kontrolle gebracht. Protest oder Widerspruch wurden kaum geduldet und entsprechend sanktioniert. Die Berichte der Patienten „vermitteln einen viel unmittelbareren Eindruck als alles, was man in der Sekundärliteratur findet“, bemerkt Studentin Natascha Studt und in der Tat lösen die Schicksale größere Empathie bei uns aus, wenn sie von den Betroffenen selbst geäußert werden – auch dann, wenn sie wie im Falle Friedrich Fents ins Lächerliche gezogen werden: In einem satirischen Gedicht verspottet er die Therapiemaßnahmen und demonstriert eine Abgeklärtheit, die ihn befähigt, das „Nerven-Abstumpfungs-System“ der Anstalt zu durchschauen. Er sei „der Sache herzlich müde“ und mache gerne Platz für andere. Wie lang im „psychischen“ Verein soll ich „Versuchs-Kaninchen“ sein, fragt er und hofft auf eine gute Note im „Abgangs-Zeugnis“.

Auf den Entlassungsschein haben viele vergeblich gehofft. Nicht jeder hatte das Glück, das Fräulein Alice beschieden war – manche brachten ihr ganzes Leben in der Psychiatrie zu.

Was bleibt?

Die Frage danach, ob es eigentlich legitim ist, diese zumeist äußerst privaten Mitteilungen zu lesen, sie auszuwerten und zu exponieren, kann am Ende nicht ausbleiben. „Teilweise fühlte ich mich wie ein Voyeur, der etwas liest, das gar nicht für ihn bestimmt ist“, sagt Student Ralf Mende und formuliert damit ein Gefühl, das uns zunächst alle beschlich. Indem wir die Briefe posthum einem lesenden Publikum zuführen, wollen wir nicht das Amt eines „verspäteten Postboten“ ausfüllen. Das Ziel der Ausstellung soll und kann keine Wiedergutmachung sein. Auch Antworten können wir keine mehr geben. Aber „gelesen zu werden ist das mindeste an historischer Gerechtigkeit, wenn dieser Begriff nicht schon anmaßend ist, was diesen Briefen geschehen kann“, betont Gregor Babelotzky. Im Gästebuch unserer Ausstellung verspricht eine Besucherin, nicht zu vergessen, was sie gelesen hat.

Die Ausstellung ist noch bis 24. Juli in der Peterskirche in Heidelberg zu sehen.

4 Kommentare

  1. Lara sagt

    Noch eine kleine Anmerkung zu meinem obigen Kommentar:
    Leider ist das auf der artefakt-Seite angezeigte Einstell-Datum bei Kommentaren nicht richtig. Mein Kommentar ist vom 29.06.2011, somit meine ich also die RNZ-Ausgabe vom 29. Juni.

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