Wissenschaftliche Aufsätze
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Et in Arcadia ego

Das lateinische „Et in Arcadia ego“ ruft wohl bei den meisten Lesern das berühmte Bild gleichen Titels von Nicolas Poussin vor Augen (Abb. 1).

„Dann gähnt in ihrem Rücken schwarz ein Spalt,
und aus der weißgetünchten Mauerwand
streckt sich ein Arm. Um ihre Kehle ballt
sich langsam eine harte Knochenhand.“1

Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego, 1637-1638.

Abb. 1 | Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego, 1637-1638.

Für die Adeligen des 17. Jahrhunderts war Arkadien eine Parallelwelt, ein Fluchtpunkt aus dem politischen Zwang in die ‚natürliche’ Freiheit, in der sie sich in die Rolle von Schäfern hineinversetzend, der Liebe und dem Glück huldigen konnten. Poussins Bild zeigt jedoch noch eine weitere Komponente: Die Konstellation aus Hirten und Grab verweist auf den barocken Aphorismus des „memento mori“. Auch in der beinahe unvergänglich scheinenden Schönheit der Natur und der blühenden Jugend der Menschen, ist der Tod ständig gegenwärtig. Offenbar eignet sich nichts besser als die grüne Welt Arkadiens für „die Erneuerung der Energien und die Lösung der Probleme“2 wie dem Sterben. Mit dieser Problembewältigung hat sich auch der Maler Ferdinand Hodler auseinandergesetzt, als er den Leidensprozess seiner Geliebten über mehr als drei Jahre mitverfolgte und malte. Was er sah, ist uns in seinen Bildern überliefert, wie er es sah, dazu soll die vorliegende Untersuchung einen Anstoß geben.

Zunächst jedoch scheint es so, als würde die Kunst bei der Darstellung des Todes scheitern: Im Moment seines Ablebens und als lebloser Organismus ist der Mensch zwar als Motiv fassbar, für den Tod selbst aber muss man auf die Allegorie zurückgreifen. Man verhängt den Unsichtbaren mit Leichentüchern, um ihm Gestalt zu verleihen oder lässt Gerippe an seiner Stelle auftreten. Er zeichnet sich durch seine anthropomorphe Gestalt aus und verweist damit gleichzeitig auch auf den menschlichen Körper als solchen: Hier ist der Ort, an dem die beiden Gegenspieler aufeinandertreffen, denn Tod kann es nur dort geben, wo zuvor Leben war. Dieser positive Rückverweis erzeugt seinerseits ein Gefühl der Melancholie, fallen doch für das Individuum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei der Betrachtung des toten Mitmenschen zusammen. Daraus ergibt sich ein Widerspruch: Im Moment des Wahrnehmens von Endlichkeit kommt es zu einem Zeitstillstand, einem Kondensieren von Zeit für ihren minimalsten Abschnitt, in welchem sie arkadisch-ewig scheint, also die Illusion eines glücklichen Lebens ohne den Schatten des Todes evoziert wird, dem nun die Zeitlosigkeit des Letzteren diametral entgegensteht. Dieses Paradoxon ist ein Ansatzpunkt für die Darstellung des Todes in der Kunst.

Auf die Leinwand gebannt erlangt das Dargestellte Unsterblichkeit im Kunstdiskurs, während es zugleich auf die Vergänglichkeit des Dinglichen verweist.

Dieser Effekt wird durch den Betrachter noch verstärkt: Man sieht die Hinfälligkeit des Anderen und wird sich im selben Moment seiner Lebendigkeit bewusst, das Triumphgefühl des Überlebt-Habens stellt sich ein und monumentalisiert das eigene Leben.3

Aus diesem Denken heraus unterstellt die Forschung im Umgang mit Ferdinand Hodlers Zyklus der kranken, der sterbenden und der toten Valentine Godé-Darel aus den Jahren 1912 bis 1915 dem Künstler eine gewisse Egomanie. Die Gender-Forschung ist hier nur ein Beispiel, wie sich bei dieser sensiblen Thematik die Konzentration auf den dargestellten und den darstellenden Menschen richtet.4 Die vorliegende Untersuchung hingegen will die Blickrichtung vom Subjekt-Objekt-Diskurs wegführen und den Schwerpunkt auf das Bild selbst und seine Techniken setzen, um sichtbar zu machen, wie im Tod Unvergänglichkeit entstehen kann, das heißt wieso Poussin das Grab in Arkadiens Schönheit plazieren konnte ohne sie zu vermindern, sondern sie vielmehr noch steigerte.

Ferdinand Hodler5 und Valentine Godé-Darel6 lernten sich 1909 in Genf kennen. Zunächst stand Valentine nur Modell für den Maler, doch schnell entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen ihnen, obwohl Hodler zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet war. Im Jahr 1912 erkrankte Valentine an Unterleibskrebs und verschied drei Jahre später. Was diese Maler-Modell-Beziehung einzigartig gegenüber allen anderen macht, ist eben jene Bilderserie aus der Sterbephase Valentines, die die Auseinandersetzung zwischen Kunst und Tod vor dem Hintergrund des Eros forciert.

Die Erfahrungen mit der menschlichen Endlichkeit, welche die Jugend Ferdinand Hodlers auf „überwältigende und ständige“7 Weise prägten, beginnt, als seine Familie an Tuberkulose stirbt – Ferdinand Hodler überlebte als Einziger. In seinem Œuvre findet man die Darstellung Verstorbener seit seiner Auseinandersetzung mit Holbeins totem Christus im Jahr 1875 im Augustinermuseum in Basel.8 Im Jahr darauf malt er den „Toten Bauern“, mit dem er das Christus-Motiv in ein profanes9 Umfeld übertrug und sich so, durch ikonographische Verweise auf die Heilsgeschichte, scheinbar von der Sublimierung des Grauenerregenden distanzierte. Auch bei dem Bilderzyklus um Valentine Godé-Darel spürt man, wie das Metaphysische im Stofflichen verhaftet ist, aber das Menschliche sich bereits aus dem Körperlichen entfernt hat. Hodler zeigt gerade damit einen Weg der Zersetzung und Rekonstruktion, wie ihn auch Jacques Derrida vorgeschlagen hätte: Die Vanitas thematisiert diesen Vorgang auf gleiche Weise, indem sie der endgültigen Zerstörung die vorangehende Konstruktion entgegensetzt und beiden gegenseitige Bedingtheit zuweist.10

„Mein Tod ist nur ein Schlaf. Dadurch der Leib, der hier von Sorgen abgenommen, zur Ruhe kommen.“11 Bei wenigen finden sich so klare Worte für das barocke Erleben von Vergänglichkeit und der Sehnsucht nach dem Fortdauern im Jenseits, wie bei Johann Sebastian Bach. Die Kommunikation über den Tod ist, neben seiner Verdrängung,12 ein wesentliches Verarbeitungsmittel für den Schrecken, den er mit sich bringt, aber auch menschlichstes Zeichen für den Umgang mit diesem. Der Abschied vom Menschen bedeutet Loslassen-Müssen, aber auch Losgelassen-Werden-Wollen: Die Grenze zwischen den Lebenden, den Sterbenden und den Verstorbenen wird genau markiert, sei es durch Hospiztüren, Beerdigungsinstitute oder Grabsteine. Nach Vollzug der Riten kehrt meist schnell der Alltag ein und das Leben gewinnt die Oberhand. Der Mensch jedoch ist dem Untergang verschrieben, seine Gottesebenbildlichkeit endet spätestens bei „Respice post te, hominem te esse memento!“ (dt. „Sieh dich um; bedenke, dass auch du ein Mensch bist.“).13 Mit dem Sterben wird sich der Mensch seiner Menschlichkeit bewusst. Demgegenüber zeigte bereits Edmund Burke in seiner „Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen“, dass die „Ideen von Schmerz, Krankheit und Tod (…) das Gemüt mit starken Bewegungen des Schauders“14 erfüllen können, Affekte, die für Burke das Erhabene definieren. Das Aufeinandertreffen dieser Extreme markiert die bildliche Darstellung von Sterbenden und Toten. Das ästhetische Empfinden fordert die Schönheit des Wiedergegebenen – die biologischen Verfallsprozesse können diesem Anspruch jedoch nicht genügen. Zudem enthalten die Bilder des Todes15 noch ein beinahe unüberwindliches Paradoxon:

Ihr Inhalt gemahnt uns an unsere eigene Sterblichkeit, gleichzeitig wird uns aber Unsterblichkeit suggeriert, leben wir doch in dem Augenblick, in dem wir das Bild betrachten, und haben mit unserem Leben über den dargestellten Tod triumphiert.

Auch der Verstorbene selbst zeigt diese Dichotomie: „Er verkörpert die Anwesenheit eines Abwesenden“.16

Mit den über 50 Ölbildern, 130 Zeichnungen und 200 Skizzen, die der Schweizer Maler Ferdinand Hodler vom Sterben und dem Tod seiner Geliebten Valentine Godé-Darel angefertigt hat, schuf er in diesem Fragenkontext etwas Neues: Das unermüdliche Dokumentieren und die schonungslose Genauigkeit, mit der er die vom Krebsleiden gezeichnete Valentine malte, können als praktische Umsetzung der von Burke aufgestellten Theorie über das Empfinden von Schauder beim Anblick von Leiden und Sterben gelten, die gleichzeitig in die Höhen des Erhabenen und in die Abgründe körperlichen Verfalls verweist.

In diesem Spannungsfeld markiert Hodler selbst den Weg, wie bereits Heinrich Wölfflin feststellt: „Man muß nur die große Einheit fassen, die mit Cornelius anfing und mit Hodler wieder da ist, mutatis mutandis wieder Linienkunst durchaus, Bewusstsein derselben beim Künstler und Bewusstsein, der Menschheit Würde in der Hand zu haben“.17 An der Linie schärft sich also der Blick für den Inhalt, sei er visueller oder semiotischer Art.

Hodler, Ferdinand: Die tote Valentine Gode-Darel, 1915.

Abb. 2 | Hodler, Ferdinand: Die tote Valentine Gode-Darel, 1915.

Die Betrachtung seiner Landschaftsbilder liefert wichtige Schlüsselindizien für eine umfassende Deutung dieses Bildkomplexes. Hodlers Zeichnungen von Valentine, die die Bildfolge ergänzen und das ganze Ausmaß des Schreckens, den die zersetzende Krankheit und der mit ihr einhergehende Tod darstellen, zeigen sein Interesse an der menschlichen Gestalt. Die Linie wird bei ihm als Grenze zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Maler und Modell, zwischen Mann und Frau sowie zwischen Mensch und Mitmensch neu definiert. Die „Konturathletik“ 18 Hodlers zeigt, dass es sich um keine passive, neutrale Stellung gegenüber Valentine als Mensch und Modell handelt, keinen Voyeurismus der Form, sondern um aktive Teilnahme am Verfallsprozess (Abb.2).

Bereits J. Brüschweiler assoziiert die „Heftigkeit seiner Schraffierungen“ mit dem Bemühen Hodlers, „seiner Erschütterung Herr zu werden beim Anblick des knöchernen Antlitzes und des zugrundegehenden Körpers, der in der Tiefsicht wie ein herabbrechender Felsblock an einen Berghang aussieht.“19

Hodler geht „von der Ausdrucksbewegung der Gestalt und ihrer psychischen Determination“ 20 aus, er versucht zu erfassen, was er und auch Valentine empfinden und will dies dem Betrachter vermitteln.

Es ist eine über den individuellen Rahmen hinausgehende Anteilnahme am Leiden des Menschen, womit der Zyklus an die Passion Christi erinnert. Hodler setzt dies bei der Behandlung der Linie um: Valentine ist stark in den Vordergrund gerückt, alles andere verliert sich in der Unbestimmtheit. Ihr Profil, Kopf, Hände, Arme werden als verschiedene Farbflächen durch kräftige, beinahe grob gezogene Striche voneinander getrennt, die sich hauptsächlich in der Horizontalen bewegen. Dennoch gewinnt die Darstellung Valentines durch diesen stark herausgearbeiteten Einsatz von Fläche und Linie keineswegs an Tiefe. Es bleibt vielmehr bei einem Eindruck von Zweidimensionalität: Der Strich ist zunächst auch zweidimensional, er trennt Räume voneinander, statt sie zu verbinden. Dies entspricht der Dimensionslosigkeit, die den Tod für die Überlebenden charakterisiert. Doch in den Bildern des Schweizers geht es um mehr als das, er selbst bezeichnete die Linien, die das Bild der toten Valentine Godé-Darel im oberen Bildabschnitt markieren, als „Symbolisierung der aufsteigenden Seele“.21 Indem der Mensch in seinem Sterben die letzte Grenze überschreitet, gelingt ihm das Entscheidende: Er durchbricht die Mauer seiner Körperlichkeit. In den Bildern der Valentine transzendiert diese psychische Dimension durch das Stoffliche: Der Körper selbst scheint sich zwischen den Farben aufzulösen, während das Gesicht, welches das Wesen des Menschen reflektiert, in aller Schärfe erhalten bleibt. Ein weiterführender Blick auf seine Landschaften kann dafür eine Erklärung liefern.

Hodler, Ferdinand: Sonnenuntergang am Genfer See, 1915.

Abb. 3 | Hodler, Ferdinand: Sonnenuntergang am Genfer See, 1915.

Vor allem die Bilder Ferdinand Hodlers mit dem Motiv des Genfer Sees weiten das Blickfeld über die reine Kontemplation von Wasser und Gestein auf die Anordnung von Flächen zueinander. Vergleicht man die strenge Linienführung der Bergspitzen in Hodlers Sonnenuntergang am Genfersee mit dem Profil der Sterbenden, fällt die Übereinstimmung auf (Abb.3). Das ganze Bild ist von horizontalen Streifen durchzogen, so dass deutlich wird: Um in die Tiefe des Bildes zu gelangen, müssen die Horizontalen überwunden werden. Hodlers weite Gebirgslandschaften sind als Befreiung der Räume gedacht, die zwar noch durch die Linien markiert sind, aber dadurch mehr eingeteilt als beengt werden. Die Farbgebung zeigt durchweg helle, grau-weisse Lichttöne. Das Licht macht die Grenzen erkennbar, schafft aber auch Weite.

Diese kann körperlich erfahren werden, ermöglicht aber gleichzeitig auch der Seele einen Platz für sich zu finden.22 Nun ist die Natur nicht mehr nur romantischer Seelenspiegel, sondern vielmehr ein „eigenes Gegenüber – grandios in der Konzeption und Menschliches stets überragend“. 23 Durch das Hinscheiden kann diese Dimensionslosigkeit, die physische Grenze, überwunden werden. Mensch und Natur formieren sich parallel. Hodler suggeriert mit den Landschaften, die nach Valentines Sterben entstehen, dass auch sie die begrenzende Körperlichkeit überwunden hat. Der Künstler besiegt also den Tod nicht mit der Kunst, sondern in der Kunst durch den Tod selbst.

Hodler, Ferdinand: Der Holzfäller, um 1910.

Abb. 4 | Hodler, Ferdinand: Der Holzfäller, um 1910.

In der Theorie der Parallelität verbindet Hodler eine Kunstkonzeption mit einer Lebensphilosophie, nach der Kunst und Mensch einer grundsätzlichen Ordnung unterworfen sind, „einem Weltgesetz von allgemeiner Gültigkeit“.24 Die Empfindung und die Form werden im Parallelismus in Übereinstimmung gebracht,25 und zwar nicht nur auf der Leinwand des Künstlers, sondern auch zwischen den einzelnen Menschen. In keiner Phase ihres Lebens sind sie einander so ähnlich wie bei ihrer Geburt und im Sterben. Der Tod macht alles gleich, besagt das bekannte Sprichwort, eine Erfahrung, die die körperlichen Unterschiede der Individuen aufhebt. Und das Körperliche ist es, dem Hodlers Interesse gilt, wie es zum Beispiel seine Bilder mit dem Titel Eurythmie oder sein kraftstrotzender Holzfäller deutlich zeigen (Abb. 4). Bei Valentine Godé-Darel potenziert sich diese Erfahrung nochmals, das narrative Element bricht auf, indem Signifikat und Signifikant gleichgesetzt und die poetischen Ausdrucksmöglichkeiten drastisch reduziert werden.Damit ist Ferdinand Hodler als Maler tatsächlich eine „Übergangsfigur“,26 denn in seiner Malerei zeigt er die Grenze zwischen Diesseitigem und Jenseitigem auf und macht bewusst, dass diese Grenze im Menschen selbst liegt. So scheint sich „die schärfer zu erfassende Wirklichkeit besonders klar an ihren Grenzen, d.h. im Tode“ zu offenbaren. 27

Hodler besetzt also den Begriff des „horror vacui“ neu, indem er ihm die Antiklimax vorschaltet:

Die Bildserie der sterbenden Valentine Godé-Darel steigert die Spannung des zu erwartenden Todes, sie stirbt tatsächlich, jedoch bleibt es nicht bei der Leere, die sie mit ihrem Ableben als dramatischem Höhepunkt hinterlässt. Vielmehr wird jene Gehaltlosigkeit in Weite umgewandelt, in eine Landschaftserfahrung der körperlichen Art.

Valentine, auf dem Totenbett liegend, spricht nicht mehr von der Vergangenheit im Sinne einer gegenwärtigen Erinnerung. Vielmehr wird ihr Äußeres zur Allegorie des Jenseitigen. Auch Hodlers Landschaften zeigen nichts von der, man möchte sagen romantischen Enge eines Verschlossenseins und Verarbeitenmüssens. Wie ist das möglich? Ist Thanatos vielleicht doch noch „gezähmt“ worden?28

Die Verbindung von Tod und Landschaft lenkt den Blick nach Arkadien. Poussins „Et in Arcadia ego“ ist für das 17. Jahrhundert richtungsweisend. Das Leben als Illusion des „Theatrum mundi“ zu betrachten, in welchem das Sterben die Realität verkörpert, ist ein Grundgedanke des Barock. Nun ist Ferdinand Hodler kein Barockmaler und Valentines Sterbezimmer kein „locus amoenus“, dennoch bedient er sich der gleichen Strukturen, um auf die Diskrepanz zwischen dem, was für den Menschen wirklich ist, und dem, was sich ihm als solches offenbart, aufmerksam zu machen: Die Landschaft, die uns Hodler präsentiert, zeichnet sich durch Weite und Ruhe aus, sie lässt das Körperliche in sich aufgehen und macht es gleichzeitig sich selbst erfahrbar. Wie gezeigt wurde, trifft dies auch auf den Tod zu, er entgrenzt das Physische und öffnet den Zugang zu einem unbestimmten Raum, den wir mit unserer Phantasie, unseren kulturell oder religiös geprägten Denkmustern füllen. Die Verhandlung der Leerstelle wird hier neu angestoßen: Die Eurythmie ist im Sinne Nietzsches nicht mehr nur Ergebnis der Selbstvergessenheit, dank derer man sich „singend und tanzend“ als „Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit“ definieren kann, haben wir doch „das Sprechen verlernt und [sind] auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen“.29 Die Bewegung auf das Ende des Lebens ist tatsächlich εὖ ,30 also gut, leicht, ein notwendiger Prozess des richtigen Umgangs mit sich selbst, an dessen Ende die Vereinigung mit der Natur steht. Ihr verdankt der Mensch, dass die Illusion Arkadiens im Tod Realität werden kann.

  1. Abb. 1 | http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nicolas_Poussin_052.jpg
  2. The work of art depicted in this image and the reproduction thereof are in the public domain worldwide. The reproduction is part of a collection of reproductions compiled by The Yorck Project. The compilation copyright is held by Zenodot Verlagsgesellschaft mbH and licensed under the GNU Free Documentation License.
  3. Abb. 2 | Ein Maler von Liebe und Tod. Ferdinand Hodler und Valentine Godé-Darel. Ein Werkzyklus, 1908-1915, Ausstellungskatalog, hg. v. Jura Brüschweiler. Zürich 1976, S. 166.
  4. Abb. 3 | Ein Maler von Liebe und Tod. Ferdinand Hodler und Valentine Godé-Darel. Ein Werkzyklus, 1908-1915, Ausstellungskatalog, hg. v. Jura Brüschweiler. Zürich 1976, S. 167.
  5. Abb. 4 | Swiss Made - Präzision und Wahnsinn. Positionen der Schweizer Kunst von Hodler bis Hirschhorn, Ausstellungskatalog, hg. v. Markus Brüderlin, Julia Wallner. Ostfildern 2007, S. 158.
  1. Heym, Georg: „Das Fieberspital“. In: Dichtungen und Schriften, hg. v. Karl Ludwig Schneider. Hamburg/München 1960, S. 166-167.
  2. Levin, Harry: The Myth of the Golden Age in the Renaissance. Bloomington 1969, S. 125. Der Begriff der “green world” ist Northrop Frye entnommen, siehe u.a. dazu Frye, Northrop: A Natural Perspective: The Development of Shakespearean Comedy and Romance. New York 1965.
  3. Schon in der Ideenlehre Platons liegt begründet, dass das Kunstwerk an sich Anteil an der Ewigkeit hat. „Unsterbliche(s) Leben“ wird ihm u.a. auch von Arthur Schopenhauer attestiert: Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zürich 1988, S. 313. Eindrucksvoll thematisiert Oscar Wilde dies in The picture of Dorian Gray.
  4. Dass erst die Liebe die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt ermöglicht, zeigt Ludwig Feuerbach in seinem „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“. In: Gesammelte Werke, hg. v. Werner Schuffenhauer. Berlin 1967, Bd. 1, S. 230. Elisabeth Bronfen, hier die Vertreterin der Genderforschung, sieht darin hauptsächlich den Kampf zwischen dem männlichen Subjekt und dem weiblichen Objekt, dem Anderen. Unter Zuhilfenahme der Dekonstruktionstheorie Jacques Derridas begründet sie die Überlagerung des Malerporträts über das des Modells: „Die Bilder der Sterbenden sind Spiegelbilder, weil der Maler über den sterbenden Körper des Anderen seiner eigenen Sterblichkeit gewahr wird.“ Vgl.: Bronfen, Elisabeth: „Die ›sterbende Valentine Godé-Darel‹“. In: Blick-Wechsel: Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, hg. v. Ines Lindner. Berlin 1989, S. 484. Auch bei Erica Pedretti findet die Thematik von männlicher Gewalt und weiblicher Gestalt Eingang in die Kunst. Vgl. Pedretti, Erica: Valerie oder Das Unerzogene Auge. Frankfurt 1986, S. 46.
  5. Unter den zahlreichen Biographien zu Ferdinand Hodler seien besonders zu nennen: Sterchi, Beat / Luchsinger, Cornelia (Hg.): Ferdinand Hodler - biographische Erinnerungen. Zürich 1994; Mühlestein, Hans / Schmidt, Georg: Ferdinand Hodler. Sein Leben und sein Werk. Zürich 1983; Hirsh, Sharon L.: Ferdinand Hodler. München 1981; und die eindringliche Darstellung in Brüschweiler, Jura: Ferdinand Hodler. Selbstbildnisse als Selbstbiographie. Bern 1979.
  6. Eine ausführliche biographische Rekonstruktion zu Valentine Godé-Darel bietet Schmidt, Katharina (Hg.): Ferdinand Hodler. Eine symbolistische Vision. Ostfildern 2008, S. 386f.
  7. Hirsh, Sharon L.: Ferdinand Hodler. München 1981, S. 8.
  8. Vgl. SCHMIDT 2008 (wie Anm. 6), S. 290.
  9. Seine Herkunft aus der realistischen Malweise war hierbei von Einfluss. Vgl. HIRSH 1981 (wie Anm. 7), S. 17. Hodlers Übergang vom Realismus zum Symbolismus veranschaulicht Vignau-Wilberg, Peter: Ferdinand Hodler: Der Tag. Vom Realismus zum Symbolismus. Frankfurt 2003.
  10.  Wie Karlheinz Stierle zeigt, bedeutet die Dekonstruktion nach Derrida keinesfalls die Auflösung der Konstruktion im Nichts: „Sie setzt die Konstruktion und setzt sich über darüber hinweg, um eben jene Momente in ihren verstehenden Diskurs hineinzuziehen, die sich der diskursiven Realität entziehen.“ Sie ist also als Ergänzung und nicht als Negation zu verstehen. Vgl. Stierle, Karlheinz: Dimensionen des Verstehens. Der Ort der Literaturwissenschaft. Konstanz 1990, S. 24.
  11.  Unbekannter Textdichter zu J. S. Bach, Klavierauszug v. Günter Raphael, Ed. Breitkopf Nr. 7095. Leipzig 1930.
  12. Die These, dass die Geschichte der Menschheit durch die Verdrängung des Todes geprägt ist, wird u.a. von Jean Baudrillard vertreten. Vgl. hierzu Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982. Vgl. weiter auch Friedhelm Mennekes’ Aufsatz „Über die Sprachlosigkeit vor dem Tod“. In: Kunstzeitung, 147 (2008), S. 19: „Der Mensch steht im Grundverständnis seines Lebens gewissermaßen neben sich, weil er mit dem Sterben die gewisseste Gewissheit seines Lebens von sich weist.“
  13.  Tertullian: Apologeticum 33,4. In: ders.: Apologeticus and De Spectaculis. Cambridge 1953, S. 156f.
  14.  Burke, Edmund: Vom Erhabenen und Schönen. Hamburg 1989, S. 72. (Hervorhebung im Text ).
  15. Vgl. zur Thematik allgemein: Därmann, Iris: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte. München 1995. Für die Überschneidung von Bild und Tod plädiert auch Bachelard, Gaston: La Terre et les rêveries du repos. Paris 1948, S. 312. Die These schließlich, dass die Kunstgeschichte seit Winckelmann nichts anderes mehr sei als Trauerarbeit, vertritt Did-Huberman, Georges: L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg. Paris 2002.
  16. Macho, Thomas: „Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich“. In: Assmann, Jan (Hg.): Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Frankfurt 2000, S. 99.
  17.  Verspohl, Franz-Joachim: „Die Rezeption Hodlers in Deutschland”. In: Koella, Rudolf (Hg.): Ferdinand Hodler. München 1999, S. 197.
  18. Ebd., S. 201. Gemeint ist hier der Eindruck starker Auseinandersetzung, des Kampfes, den Hodlers Linienführung durch ihre Unregelmäβigkeit vermittelt.
  19. Brüschweiler, Jura: Ferdinand Hodler. Zürich 1983, S. 160.
  20.  Ebd., S. 157.
  21. SCHMIDT 2008 (wie Anm. 6), S. 288. Ausführliches Material zur Glaubenseinstellung Hodlers fehlt,  Schmidt sieht in Hodler Einflüsse darwinistischen und pantheistischen Gedankenguts, christliche Elemente dienen höchstens der ornamentalen Gestaltung. Vgl. SCHMIDT 2008 (wie Anm. 6), S. 294.
  22. Diese Weite wusste v.a. Paul Klee zu schätzen: „Er ist vor allem ein Menschendarsteller, der durch den Körper die Seele zu gestalten weiss wie kaum einer. Dadurch erfährt der Körper eine Steigerung ins Übernatürliche.“ Vgl. VERSPOHL 1999 (wie Anm.17), S. 197.
  23.  Salter, Ronald: Georg Heym und Ferdinand Hodler – Typologische Anmerkungen zur Frühgeschichte des Expressionismus. Kopenhagen 1976, S. 156.
  24. HIRSH 1981 (wie Anm. 7), S. 21.
  25.  Vgl. hierzu Vignau-Wilberg, Peter: „Zu Hodlers Lebensmüden“. In: KOELLA 1999 (wie Anm. 17), S. 24.
  26.  SALTER 1976 (wie Anm. 23), S. 134.
  27. Ebd., S. 150.
  28. Die Begrifflichkeiten des „gezähmten“ und „wilden“ Todes wurden Ariès, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. München 1976, entnommen. Dort unterscheidet er zwischen dem gezähmten Tod im Mittelalter, der als etwas Natürliches empfunden wurde, während der Tod der Neuzeit ein wilder ist, denn er hat an Schrecklichkeit durch Entfremdung gewonnen.
  29. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1980, Bd. 1, S. 30.
  30. „εὖ“ (sprich: eu): grch. für „gut“.

1 Kommentare

  1. Patrick Hess sagt

    in der Tat ein schöner Aufsatz, mit guten Gedanken, und irgendwie tröstend … ich kannte die Geschichte der beiden nicht, aber habe nach weiterer Lektüre den Eindruck, daß es mehr als nur eine „Maler-Modell-Beziehung“ war, und daß Ferdinand und Valentine (wenn auch nur Porzellanmalerin) gut zu den „Künstlerpaaren“ gepaßt hätten!

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