Interview, Kunsthistoriker im Gespräch
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Die ‚Global Art History‘ hinterfragt den Kanon

Sie haben in Delhi Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie studiert, spezialisierten sich anschließend auf das Fach Kunstgeschichte und wurden mit einer kunsthistorischen Arbeit in Paris promoviert. Wie haben Sie schließlich die Disziplin der ‚Global Art History‘ für sich entdeckt?

Blick über den Tellerrand der Europäischen Kunstgeschichte: Maler und Kalligraf in der Handschrift „Khamsa“ des Dichters Nizami, Ende 16. Jahrhundert.

So wie in Deutschland lange Jahre Geschichte und Philosophie zusammen gelehrt wurden, sind in Indien Geschichte, Kultur und Kunstgeschichte in einem Fächerverband zusammengefasst. Deshalb habe ich in Delhi Kunstgeschichte im Rahmen meines Geschichtsstudiums studiert, wobei ich mich auf Indische Kunstgeschichte spezialisiert habe. Später ging ich nach Frankreich, um in Europäischer Kunstgeschichte zu promovieren. Mit meiner Promotion wollte ich die modernen Methoden der Kunstgeschichte kennenlernen.

Die Globale Kunstgeschichte trat erst später in meine Laufbahn. Durch meinen doppelten Schwerpunkt − Indien und Europa − bemerkte ich bereits, bevor man das Etikett der ‚Global Art History‘ entdeckte, dass die Grenzen, die man um die Forschungsgegenstände der Kunstgeschichte gezogen hatte, fließender wurden. Ich habe schon vor meiner Professur im Bereich transkultureller Beziehungen geforscht und bin dabei auf viele voneinander abhängige Faktoren gestoßen. Als der Lehrstuhl für ‚Global Art History‘ in Heidelberg ausgeschrieben wurde, war dies genau das Richtige für mich. Normalerweise sind die Stellen nach ihren Gebieten sehr streng definiert. Trotzdem habe ich bei meiner Forschungsarbeit immer versucht, eine globale Perspektive einzunehmen. Schlussendlich hat der Cluster mich entdeckt und mir die Möglichkeit gegeben, diesen Ansatz offensiver zu verfolgen. Die Professur ist für mich eine große Herausforderung, da es in Deutschland die erste Professur für Globale Kunstgeschichte ist.

Transkulturelle Sichtweise

Wie definieren Sie ‚Global Art History‘?

Es gibt verschiedene Arten die Globale Kunstgeschichte zu definieren. Ich verfolge dabei eine Herangehensweise, die auf dem Transkulturellem beruht. Diese sucht nach Beziehungen, Zuordnungen, Sichtweisen und Perspektiven, die durch die transkulturelle Mobilität der Menschen entstanden sind. Traditionen, Kunstobjekte und Symbole werden bereits seit der Antike zwischen verschiedenen Kulturkreisen ausgetauscht. Man kann einen Forschungsgegenstand nach diesen Kriterien neu definieren. Jede Fragestellung ist hierfür denkbar: Auch bei einer Arbeit über Dürer oder Rembrandt kann eine transkulturelle Sichtweise als ein diagonales Schlaglicht auf ein Thema gerichtet werden. Diese Vorgehensweise ist eine Herausforderung. Dabei muss nicht die gesamte Kunstgeschichte umgekrempelt, sondern vielmehr aus einem neuen Blickwinkel betrachtet werden. Es ist ein gravierendes methodisches Problem nur von dem kanonischen Bereich der europäischen kunsthistorischen Forschung auszugehen. Dieser hat feste Begriffe und Kategorien, die nicht problemlos auf andere Kulturkreise übertragen werden können.

Wie kann die Forschung der Kunst einer globalisierten Welt trotzdem gerecht werden?

Die Begegnungen, Kooperationen und Interaktionen von Wissenschaftlern weltweit haben sich stark intensiviert. Es ist wichtig, eine gemeinsame Wissenschaftssprache zu finden. Bis jetzt findet der internationale Austausch meist in europäischen Sprachen statt, das sind die Asymmetrien der modernen Welt. Bei einer Arbeit über eine andere Kultur ist es schwierig, den Spagat zwischen der Quellensprache und der Verständigung innerhalb des wissenschaftlichen Forums zu meistern.

Die ‚Global Art History‘ bedient sich einer globalen Sichtweise, die jedoch lokal angewendet wird, da regional definierte Produktionszentren von lokal geprägten Menschen untersucht werden. Wie kann dieser Widerspruch gelöst werden?

Für mich ist das kein Widerspruch. Es ist einfach eine multiperspektivische Sichtweise nötig. Ich arbeite zum Beispiel über die frühe Moderne in der südasiatischen Kunstgeschichte und definiere meinen Raum, indem ich mich auf das Lokale beziehe. Dieses Lokale ist nicht abgeschottet und lässt sich somit auch nicht allein von Innen heraus erklären. Es entstand durch breitere Bewegungen, das heißt, durch Zirkulation und Austausch auf einer globalen Ebene. Das Lokale ist somit die Antwort auf diese Bewegung und kann wiederum helfen, das Globale zu verstehen. Ich würde das Alternieren zwischen den beiden ‚double vision‘ nennen.

Kann jedes Kunstwerk in einem globalen Kontext untersucht werden?

Man denkt immer, die Globale Kunstgeschichte untersuche nur die Beziehungen, den Austausch und das Ineinanderfließen von Kulturen. Aber was ist mit Kunstwerken, bei denen solche Prozesse gar nicht stattgefunden haben? Gesellschaften können versuchen ihre ‚kulturelle Reinheit‘ zu behalten. Aber diese ‚Reinheit‘ wird definiert in Abgrenzung von etwas, das als Verunreinigung oder Vermischung wahrgenommen wird. Diese Resistenz und das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen der eigenen Selbstdeutung von Kultur und den Prozessen, die tatsächlich stattfinden, muss die Globale Kunstgeschichte thematisieren. Das betrifft eine ganze Palette von Beziehungen, die auch auf der Bildebene stattfinden. Jedes Bild ist ein Standort, anhand dessen Beziehungsgeschichten untersucht werden können, auch wenn diese Beziehungen daraus bestehen sich abzuschotten.

Dynamsierung der Kunstgeschichte

Ist die Diskussion über die Methoden der ‚Global Art History‘ symptomatisch für eine aktuelle Krise der Kunstgeschichte?

Die ‚Global Art History‘ ist ein sehr neues Feld, deshalb ist sie auf dynamische Zusammenarbeit mit anderen Bereichen der Kunstgeschichte sowie mit anderen Disziplinen angewiesen. Ein Anfang wird gerade an der Freien Universität in Berlin gemacht. Dort wird nicht mehr nur die traditionelle Europäische Kunstgeschichte gelehrt, sondern auch Afrikanische, Lateinamerikanische und Ostasiatische Kunstgeschichte. Auch in Heidelberg sind verschiedene Regionalstudien vertreten. Die Hinterfragung der Begrifflichkeiten und kanonischen Kategorien sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit bedeuten nicht die Auflösung der Kunstgeschichte, sondern sind eine Bereicherung, denn jeder Wissenschaftler bringt aus seinem Fachbereich neue Sichtweisen mit.

Ich bin sehr angetan von der aktuellen Dynamisierung der Kunstgeschichte. Sie hat Krisen immer überlebt und sich erneuert. Nun erneuert sie sich durch den globalen Ansatz. Ich bevorzuge eine Kunstgeschichte, die sich kontextualisiert, aber eigentlich Bildsemantiken und Bilddiskurse auseinandernimmt und sich durch Anregungen von Außen dynamisiert. Ich sehe mich nicht als Bildwissenschaftlerin, sondern vielmehr als Kunsthistorikerin, die für neue Ansätzen offen ist.

Austausch zwischen verschiedenen Kulturkreisen: „Das letzte Abendmahl in der roten Wüste“ von M.F. Husain, 2008.

Das Forschungsprojekt Global Art and the Museum (GAM) wurde 2006 von Hans Belting und Peter Weibel im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe gegründet. Die zentrale Frage des Projekts lautet, wie der Prozess der Globalisierung die Kunstszene beeinflusst und verändert. Wie bewerten Sie die Auswirkungen der Globalisierung?

Das GAM ist Hans Beltings Baby. Für ihn ist ‚Global Art‘ die zeitgenössische Kunst, die von der nicht-europäischen Welt produziert wird und dann auf Biennalen und Kunstmärkten in einem globalisierten Raum erscheint. Das heißt, er unterscheidet zwischen ‚Global Art‘ und ‚Global Art History‘. Das GAM ist seine Reaktion auf die Herausforderung der modernen Globalisierung. Das Projekt ist ein wichtiger Impuls für die ‚Global Art History‘, sich neue Perspektiven anzueignen. Nächstes Jahr wird die Ausstellung „The Global Contemporary – The Art World After 1989“ stattfinden. Das interessante an den Ausstellungen des GAM ist, dass sie nicht von bekannten Kuratoren konzipiert werden. Es findet zwar eine Auswahl statt, aber die Künstler können ihre Werkstattpraxis in der Ausstellung sichtbar machen.

Für mich ist die ‚Global Art‘ allerdings eine Antwort auf das Ineinanderkreuzen und sich stets Neudefinieren innerhalb des globalen Raums. Man muss alle zusammengehörigen Faktoren untersuchen und sie miteinander in Beziehung setzen und sich anschließend fragen: Welche Bedeutung haben sie für die Kunstgeschichte?

Wenn man zeitgenössische Kunst aus außereuropäischen Ländern und Kulturen bei Biennalen und im Ausstellungsbetrieb zeigt, ist man immer mit der Macht des Kunstmarktes beziehungsweise der Kuratoren konfrontiert. Für Künstler aus bestimmten Teilen der Welt ist es schwierig, sich in diesem Kunstmarkt zurechtzufinden. Wo sich die Infrastruktur des Kunstmarktes im Vergleich zu Europa noch in der Entwicklungsphase befindet, wie beispielsweise in Indien, wird zeitgenössische Kunst fast ausschließlich in privaten Galerien gezeigt. Die Museen dagegen sind überwiegend staatliche Institutionen, die zum Hort der nationalen Identität stilisiert werden. Ins Museum kommen diejenigen Kunstwerke, die als Träger des Kulturerbes oder der ,Tradition‘ kanonisiert werden. Die zeitgenössische Kunst befindet sich vor allem in privaten Sammlungen. Das wachsende Interesse weltweit öffnet ihr den Weg auf den Kunstmarkt und in Auktionshäuser. Es herrscht eine große Konkurrenz zwischen den Künstlern um Anerkennung. Die Macht der Kuratoren bei Biennalen etc. hat dazu geführt, dass sich die Künstler dazu gedrängt fühlen, sich selbst zu ethnisieren. Sie drücken ihrer Kunst immer einen ethnischen Stempel von Tradition oder Bildsprache auf, den man zum Beispiel sofort als indisch beziehungsweise indische Moderne identifizieren kann. Wer keine Anerkennung findet, wird sofort wieder vom Markt genommen.

Ich suche immer nach Künstlern, die sich diese Umstände bewusst machen und sie in ihrer Arbeit thematisieren. Sie verstehen ihre Kunst als Freiraum und als Mittel der Subversion, um diese Wirkungsmechanismen aufzuzeigen. Letztendlich bedienen sich diese Künstler einem Mittel der Moderne: Durch Kritik und subversive Strategien wird man für den Markt attraktiv. Es entsteht also immer eine Dynamik zwischen dem Künstler und der Handlungsmacht der Kuratoren.

Gibt es neben dem GAM weitere Beispiele für globale Ansätze?

Der neue Leiter der Tate Modern, Chris Dercon, hat aktuell eine Erwerbungspolitik eingeführt, die zeitgenössische Kunst aus der ganzen Welt berücksichtigt. Das ist eine Erneuerung, die auch durch die Ausstellungspraxis der Kuratoren von Biennalen entstanden ist. Ich finde den Ausbau von Biennalen in den so genannten ‚Peripherien‘ der Welt, wie in Rio de Janeiro und Shanghai viel wichtiger. In Neu Delhi gibt es zum Beispiel jährlich die Global Art Fair vergleichbar der Art Basel. Metropolen sind nicht mehr nur Berlin, New York etc., sondern auch Shanghai, Mumbai, Seoul etc. Diese Pluralisierung fließt wiederum in die Theorie ein - das wird allerdings mindestens noch eine Generation von Wissenschaftlern beschäftigen.

Es gibt auch andernorts Anfänge diese Asymmetrien zu durchbrechen. Dozenten und Studenten der School of Arts and Aesthetics an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu Delhi haben beispielsweise eine Ausstellung kuratiert, die aus einer privaten Sammlung zeitgenössischer Kunst entstand. Sie versuchten bekannte und weniger bekannte Künstler zu vereinen und die Kunstwerke miteinander ins Gespräch zu bringen, um so das Lokale zu aktivieren. Kunstwerke werden je nach Publikum unterschiedlich gelesen: Wenn ein indisches Publikum das Werk eines weltberühmten Künstlers betrachtet, dann hat es eine andere Lesart, als Jemand der dasselbe Kunstwerk auf der Venedig-Biennale erblickt. Diese verschiedenen Lesarten sollten sichtbar gemacht werden, um den vielfältigen Bedeutungsebenen eines Kunstwerks gerecht zu werden.

‚Global Art‘ mit „ethnischem Stempel“: „The Sacred and the Profane“ von Nalini Malani, 1998.

Abenteuergeist

Eine Forschungseinheit des Heidelberger Clusters beschäftigt sich mit „Historicities and Heritage“. Könnten Sie uns Ihre Forschungsschwerpunkte genauer erläutern?

„Historicities and Heritage“ ist eine Forschungseinheit, bei der es hauptsächlich darum geht, Kulturen von der Antike bis in die Gegenwart zu untersuchen. Viele interessante Projekte kommen hier zusammen, bei denen die Altertumswissenschaften, die Europäische Kunstgeschichte und auch die Linguistik vertreten sind. Einige zentralen Fragen lauten: Was ist Kulturerbe? Welche Werke kommen ins Museum und werden somit als Kunstwerk definiert? Was ist nur ein Gebrauchsgegenstand? Welche methodischen Ansätze brauchen wir, um die Logik von Objekten, die über großen Räume wandern und in neuen Kontexten neu gedeutet werden, erschließen zu können?

In meiner Forschung untersuche ich zum einen die Entstehung der Disziplin der Kunstgeschichte in Indien, das heißt, wie diese Disziplin in der Kolonialzeit nach Indien kam und dort mit bestimmten Begrifflichkeiten und Werturteilen verwendet wurde. Zum anderen betrachte ich ihre weitere Entwicklung vor Ort. Diese hat sich auf der einen Seite vom Erbe der Kolonialzeit und von negativen Werturteilen befreit. Auf der anderen Seite hat sie aber auch neue Werturteile entwickelt. Nach der Unabhängigkeit hat es in Indien einen Wandel der nationalen Identität gegeben. Ich frage mich, wie sich dieser Wandel genau ausdrückt. Was für ein Kunstbegriff ist entstanden? Welche Werke werden im Museum ausgestellt? Wieso hat es erst viel später ein Museum für moderne Kunst gegeben? Warum wurde eher die traditionelle Kunst im Museum gezeigt und kanonisiert? Wie wird Erbe definiert? Ich mache mir weiter Gedanken darüber, wie sich die Disziplin in Indien in Bezug auf die globale Wissenschaftswelt verhält. Darüber hinaus forsche ich nicht nur über die Disziplin und die Diskurse, sondern auch mit dem Material selbst. Ich beschäftige mich mit Malerei und Bildsemantiken und versuche dabei zu erkennen, wie sie sich permanent verschieben. Ein Bild ist ein Standort für kulturelle Auseinandersetzung. Ich möchte ein Bild nicht instrumentalisieren, um Kulturgeschichte zu schreiben, aber ich muss von den Bildsemantiken und Diskursen ausgehen, um dann das Bild praktisch als einen Mikrokosmos zu sehen.

Was ist Ihr Resümee nach den ersten eineinhalb Jahren ‚Global Art History‘ in Heidelberg?

Die Professur ist für mich eine Traumstelle. Ich habe vorher in Delhi, in den USA und in Wien gearbeitet. Nun kann ich auf einmal in einem Feld forschen, dass ich selbst gestalte. Heidelberg hat die richtige Kombination einer soliden Kunstgeschichte und verschiedener Regionalstudien. Ich versuche die Disziplinen zusammenzubringen. Aber ich sehe es trotzdem als eine schwierige Aufgabe. Letztendlich sind wir nur eine Minderheit, die sich mit ‚Global Art History‘ beschäftigt. Und wenn es etwas Neues gibt, stößt man natürlich auch auf Resistenzen. Die Befürchtung, dass die ‚Global Art History‘ die gesamte Kunstgeschichte umkrempeln will, ist eine übertriebene Vorstellung. Wir können nicht die vorhandenen Fachbereiche der Kunstgeschichte verändern. Um Qualität zu sichern, müssen Wissenschaftler in ihr Gebiet tief eintauchen und mit allen verfügbaren Methoden arbeiten. All das, was bislang geleistet wurde, wird benötigt, um die Disziplin der ‚Global Art History‘ weiter zu entwickeln. Man ist außerdem angewiesen auf eingehende Grundlagenforschung. Das kann manchmal eine sehr zähe Angelegenheit sein. Man kann sich nämlich oftmals sehr schnell für eine Sache begeistern, doch dann folgt harte, solide Arbeit, wenn wirkliche Qualität erreicht werden soll.

In meinen bisherigen Lehrveranstaltungen fiel den Studenten die Infragestellung der westlichen Kategorien und Begriffe zunächst schwer. Ich bewundere sie für ihren Mut, diesen Kanon zu hinterfragen, selbst wenn das Neue noch nicht feststeht und dies Verwirrungen stiften kann. Sie haben es mit Abenteuergeist gesehen, waren teilweise aber auch frustriert. Diese Frustration oder auch Verzweiflung war jedoch produktiv, da wir intensiv diskutiert haben. Es gilt immer die programmatische Aussage: Wir sind am Anfang. Es ist eine Herausforderung, aber auch ein Luxus diesen Freiraum zu besitzen.

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