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„Ich habe eine Krähe erlegt.“ Eine Liebesaffäre mit der russischen Kultur in Bildern

Der russische Fotograf Sergei Prokudin Gorski stellte dem Zaren Nikolaus II. 1909 sein Projekt vor, durch Russland zu reisen und die Ethnien, die Menschen und das Leben im Zarenreich zu dokumentieren. Während dieser beinahe zehn Jahre dauernden Reise in einem Eisenbahnwaggon mit Dunkelkammer entstanden etwa 10.000 Farbfotografien, aufgenommen mit einer eigens gefertigten Kamera, die mit vier unterschiedlichen Linsen operiert: drei mit einem roten, gelben und einem blauen Farbfilter und eine vierte, auf der die Szene in Schwarzweiß abgebildet wird. Der Fotograf bereiste die Städte und Provinzen Russlands mit der Eisenbahn und nahm die Farbbilder auf, die in dem Bildband „Das russische Zarenreich 1855-1918. Eine Fotografische Reise“ erstmals im deutschsprachigen Raum veröffentlicht werden.

In dem Band sind nicht nur Fotografien von Prokudin-Gorski versammelt, sondern auch Bilder von Leonid Andrejew und Anton Tschechow, die ebenfalls mit der Dreifarbfotografie experimentierten, sowie von zahlreichen russischen, aber auch ausländischen Journalisten.

Eine Reise von Sankt Petersburg nach Moskau

Dezentes Layout für eine Reise durch das Zarenreich

Der Untertitel des Bands verrät, dass die Ordnung der Bilder eine topografische ist, die dem Unternehmen von Prokudin-Gorski folgt. Der Parcours beginnt nach einer kurzen historischen Einführung in die letzten Jahrzehnte des Zarenreichs mit der jungen Hauptstadt Sankt Petersburg, danach macht er eine Schleife über den Nordwesten, den Westen durch Sibirien und schließlich nach Moskau. Während die Farbfotografien Prokudin-Gorskis im Kapitel über den Nordwesten Russlands das Bild eines arkadischen Idylls von Bauern und Fischern am Baltikum zeichnen, zeigen später anonyme Fotos das Elend der Saisonarbeiter. Prokudin-Gorski befindet sich auf einer ethnographischen Reise durch das Zarenreich. Aber er fotografiert nur das ländliche Idyll, die ethnische Vielfalt in Zentralasien, die dem Petersburger Großbürgertum geradezu exotisch erschienen sein muss, und vereinzelte Industrieanlagen, doch nie die Armut der umherziehenden Tagelöhner.

Das letzte Kapitel ist Moskau und der Region gewidmet, den Kirchen, den Theaterschauspielern, den Opernsängern und den mondänen Restaurants und Kaffeehäusern. In grobkörnigen, anonymen Schwarzweißfotografien zeigt sich einige Seiten später die Unterseite städtischen Lebens: Auf eine Doppelseite gedrängt sind die Bilder von Armenhäusern, von Wodkatrinkern und Straßenhändlern.

Die Erzählung des Buchs wird schließlich mit zwei historischen Ereignissen zu Ende gebracht. Die fotografische Reise endet mit den Toten und den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution 1917.

Die Liebesaffäre des europäischen Bildungsbürgertums

Der rote Faden der Gestaltung dieses Bandes ist nicht nur das ethnographische Projekt einer fotografischen Erfassung des russischen Reichs. Vielmehr ist es die Fremdwahrnehmung Russlands, die befördert wird durch ein im westeuropäischen Bildungsbürgertum gepflegtes, romantisiertes Bild von der „russischen Volksseele.“ Blom und Buckley sprechen in der Einleitung von der „Liebesaffäre europäischer Bildungsbürger mit der russischen Kultur“, die mit diesem Band noch einmal ungebrochen fortgesetzt wird. Die Bilder sind nicht von langen Erläuterungen begleitet, sondern von literarischen Zitaten, die auf suggestive Weise versuchen, einen Text-Bild-Bezug herzustellen. Immer wieder wird Russland oder die jeweilige Region apostrophiert, so von Alexander Puschkin:

„Ich lieb dich, Schöpfung Peters, deine/Gestrenge einheitliche Pracht,/In dem granitenen Gesteine/Der Newa königliche Macht“

Neben und über Zitaten wie diesem werden, Postkartenmotiven ähnlich, die entsprechenden Stadtansichten von Sankt Petersburg mit der Newa gleich mitgeliefert. Diese Strategie der Zusammenstellung von Zitaten und Fotografien, deren direkter Bezug oft fragwürdig scheint, findet sich auf jeder Seite des Bandes. Es ist unklar, wo der Fokus liegt: Sollen die Bilder die Zitatsammlung illustrieren, oder sollen die Zitate die Bilder erläutern? Das Layout erschwert die Beantwortung der Frage, da der Text das Bild oft an Größe übertrifft und ebenso zentral auf die Seite gesetzt ist. Die Abbildungen drängen sich auf den Seiten mal bis ganz an den Rand, mal bleibt ein weißer Streifen, mal gehen sie über die Mittelfalz hinaus. Der unregelmäßige Satz der kurzen Texte in Kombination mit den Bildunterschriften erschweren dem Auge die Konzentration auf ein Bild oder einen Text und machen es unentscheidbar, ob man zum Lesen oder Betrachten angehalten ist.

Das Besondere im Banalen

Es ist nicht allein der Kanon der russischen Literatur, der Stichworte zu den Bildern gibt. Die Zusammenstellung von Texten und Bildern suggeriert eine Einheit, wenn es Einträge aus Tagebüchern und Auszüge aus Memoiren sind, die in ihrer Alltäglichkeit und Banalität die Bilder begleiten. Beispielsweise wird das journal intime des Zaren Nikolaus II. zitiert:

„Tatianas Geburtstag; sie ist acht Jahre alt. Wir gingen in die Kirche und aßen en famille. Wir gingen spazieren; ich bin Boot gefahren. Es war heiß. Ich habe viel gelesen. Ich habe eine Krähe erlegt. Wir dinierten um halb neun.“

In diesen Zeilen wird, ebenso wie mit der darüberstehenden Fotografie, die drei Großfürstinnen aus dem Umfeld des Zaren zeigt, der Alltag einer längst untergegangenen privilegierten Klasse archiviert. Mit Roland Barthes gesprochen ist die Fotografie das „absolut Besondere“, und es ist nicht der suggestive Einsatz von literarischen Zitaten, die ein sattsam bekanntes Russlandklischee weitertragen, bei dem dieses Besondere aufscheint, sondern es sind gerade die banalen Momente, die nicht Teil der großen Geschichtsschreibung sind. Diese Momente sind in Schnappschüssen geronnen und aufbewahrt. Ein weiteres Beispiel:

„Das Baden im Kurbad … stärkt den Körper und steigert die Lebhaftigkeit […][Der Prinz] konnte lange im Wasser bleiben und trank dabei noch eine Flasche Champagner, alles ohne schlechte Konsequenzen.“

Das schreibt der Regierungschef Graf Sergei Witte über den Sohn des Zaren. Darüber steht eine Dreifarbfotografie von Prokudin-Gorski, die einen Pavillon mit Kurgästen im Kaukasus zeigt. Auf der hundert Jahre alten Farbaufnahme ist weder der Zar, noch sein Sohn, noch Graf Witte zu sehen. Aber an dieser Stelle gelingt es dem bunten Foto und den rührenden Zeilen beinahe, einen längst vergangenen Moment wieder greifbar zu machen. Dieser Täuschung gibt sich der Betrachter gerne hin.

Die Einleitung stellt es als besondere Qualität dar, dass die Bilder auf eine erstaunliche Art Präsenz erzeugen. Die Farbaufnahmen des Grafen Prokudin-Gorski, die „Schnappschüsse aus einem untergegangenen Reich“, geben die Reiseroute vor, um die sich die Schwarzweißbilder wie eine bloße Ergänzung sammeln. Der Schnappschusscharakter wird zweifelhaft, wenn man die langen Belichtungszeiten der damaligen Kameras bedenkt. Der Emir von Buchara im heutigen Usbekistan musste für sein Portrait sicher lange in einer Stellung verharren, wie die durchdachte Bildkomposition verrät. Aber die Farben und die erstaunliche Schärfe machen es leicht, nicht an das qualvoll lange Posieren des Emirs zu denken, der beleibt und bärtig, im bestickten Gewand und mit Säbel auf einem Hocker sitzt und in die Kamera schielt.

Der Emir von Buchara posiert für den Fotografen des Zaren.

Es sind diese Momente, in denen durch die frühen Farbfotografien auf eigentümliche Weise Vergangenes gegenwärtig gemacht wird, die den Band lesenswert machen. Es gelingt einigen dieser Aufnahmen das Besondere zu archivieren. Im Zusammenhang mit Tagebucheinträgen, die banal scheinen, funktioniert das ergänzende Verhältnis von Text und Bild erstaunlich gut.

Doch es scheint ein Mangel an Vertrauen in die Bilder zu sein, der zu der Entscheidung geführt hat, ihnen in den meisten Fällen, Kalendersprüchen ähnlich, illustrierende Texte beizugeben. Aber so wie die Reiseroute von Prokudin-Gorski vorgegeben wird, so sind es seine Fotografien, deren Ästhetik an die digital aufgebrachte Patina von Instagram-Bildern erinnert, die den Betrachter weiterblättern und das Beiwerk vergessen lassen.

Der Band „Das russische Zarenreich. Eine photographische Reise“ von Philipp Blom und Veronica Buckley ist im Christian Brandstätter-Verlag erschienen und kostet 49,90 Euro.

 

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