Wissenschaftliche Aufsätze
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Symbole der Mystik und Magie der Wüste

„Die Sahara ist der Garten Allahs, aus dem dieser alles überflüssige menschliche und tierische Leben entfernt hat, damit es einen Ort gebe, wo er in Frieden wandeln könne.“ ‒ arabisches Sprichwort.1

Die Sahara – ein Meer von Sand, Dünen, Trockenheit und Hitze. Trotz der harten Lebensbedingungen leben in der Wüste und in der Sahelzone Nomaden, Viehzüchter und Händler, die sich aus Berbern, arabisierten Berbern und Negriden zusammensetzen.2 Sie haben sich seit vielen Generationen an das Leben in der Wüste angepasst und bringen eine faszinierende Kultur hervor, die naturbewusst und voller magischer Geheimnisse ist. Die Tuareg, deren Handwerkskunst und Gebrauchsgegenstände vom Glauben an Wüstengeister, mystische Kräfte der Sonne und des Mondes sowie des uralten Ahnenkultes und dem des Islams geprägt sind, sind eine dieser Ethnien.

Die eher dürftige Auseinandersetzung mit der Kunst der Tuareg im deutschsprachigen Raum leitet sich einerseits aus der mangelnden kunsthistorischen Forschung und andererseits aus dem spärlichen Interesse der Öffentlichkeit ab. Es scheint, als hätten die Kunsthistoriker der 70er und 80er Jahre, Hans Strelocke3 und Gerhard Göttler4 aus persönlichem Interesse Monographien und Artikel über die Sahara und deren Bewohner verfasst. Sie sind sich einig, dass die Kunst der Tuareg auf ihrer Mystik basiert und dass sie mit der Zeit zu verschwinden droht. Auch Dr. Wolfgang Creyaufmüller5 , der in den 90er Jahren über die Kunst und Bräuche der Zentral- und Westsahara schrieb, teilt diese Meinung. Bis heute trifft man häufiger auf ethnologische Untersuchungen über die Tuareg als auf kunsthistorische, wie die von Ines Kohl6 , Hans Ritter und Georg Klute.7 Die ethnologischen Beiträge, sofern sie die Handwerkskunst der Tuareg einbeziehen, beschränken sich auf die Rolle der Gegenstände im Zusammenhang mit den Sitten und Bräuchen des Volkes. Die kunsthistorische Auseinandersetzung im deutsch­sprachigen Raum setzt sich mit den handwerklichen, mystischen und historischen Hintergründen auseinander. Die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Magie, Mystik, Naturbewusstsein und der Vermischung des Glaubens der vorislamischen- und islamischen Zeit in der Moderne wird nur am Rand behandelt. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur ist bei diesem Thema schwierig, da die Kunst der Tuareg ein recht exotisches Thema für die Kunstgeschichte in Deutschland zu sein scheint. Die Arbeiten über die Kunst der Tuareg beinhalten vielmehr eine Beschreibung der Kunstgegenstände und verknüpfen diese mit der Mystik der Nomaden, gehen auf die Fertigungstechniken und Materialien ein, setzen sich aber wenig mit der Bedeutung der einzelnen Dinge auseinander und beleuchten diese nicht näher.

Tuareg, Sattel

Tuaregsattel

Anhand eines Sattels soll in diesem Beitrag dargelegt werden, wie die Tuareg ihre Bräuche in der Moderne pflegen, wie die Handwerker bei ihrer Arbeit vorgehen und welche Rolle die Muster und magischen Zeichen im Zusammenhang mit der Mystik der vorislamischen- und islamischen Zeit spielen. Es soll gezeigt werden, dass der mystische Glaube eng mit dem täglichen Leben verbunden ist und die Dekorationen aus Farben und geometrischen Formen die Versinnbildlichung der mystischen und magischen Vorstellungen sind und damit keine Kunstgegenstände im herkömmlichen Sinn. Die Grundlage für den vorliegenden Aufsatz ist ein Interview mit dem Schriftsteller Ibrahim Al-Kauni, der selbst ein Tuareg ist und in seinen Werken die Magie und Mystik seines Volkes auf einzigartige Art und Weise präsentiert.

Der mystische Glaube

Die Mystik des Nomadenvolkes basiert auf alten Bräuchen und überlieferten Erfahrungen ihrer Ahnen. Sie glauben an das „immerwährende Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur und den übernatürlichen Kräften“.8 So wird eine Frau, targia, beispielsweise beim Befüllen einer Schale mit Milch, Zweige auf dem Rand des Gefäßes drapieren, so dass diese „ein Kreuz bilden“.9 Damit schützt sie die wertvolle Milch vor den Einflüssen der Wüstengeister, die den Menschen gerne Streiche spielen und die Milch sauer werden lassen können. Das Kreuzsymbol ist das am weitesten verbreitete Motiv, das gegen Dämonen und Dschinnen sowie das ‚böse Auge‘ Schutz bieten soll. Der Begriff ‚Dschinn‘ (pl. Dschinnen) bezeichnet Geister, die im Koran erwähnt werden. Zweifellos basiert diese Vorstellung ebenfalls auf den heidnischen Traditionen der vorislamischen Zeit, die die Tuareg in ihren Glauben nach der Islamisierung integriert haben. Das ‚böse Auge‘ ist ein Synonym für neidvolle Blicke von Menschen und negative Einflüsse von Geistern: Ein Glaube, der im Orient weit verbreitet ist.

Die Volljährigkeit eines Tuareg-Jungen

Das Erreichen der Volljährigkeit, die mit bestimmten Ritualen einhergeht, ist eines der wichtigsten Erlebnisse für einen Tuareg-Jungen. Das Wachsen der Achselhaare wird als Indiz für die Geschlechtsreife der jungen Männer angesehen und die Familie richtet ein Fest für sie aus, bei dem sie von ihren Vätern einen Gesichtsschleier, tagelmust, erhalten. Das Bedecken der Mundöffnung mit dem Schleier bei Männern basiert auf der mystischen Vorstellung, dass durch alle natürlichen Körperöffnungen böse Geister eindringen können.10 Frauen dagegen tragen keine Gesichtsbedeckung. Die Voll­jährigkeit ist ein Zeichen dafür, dass der Junge nun geschlechtsreif ist und die Rechte sowie die Pflichten eines Erwachsenen hat. Eines der lang ersehnten Ereignisse, an dem der Heranwachsende nun teilnehmen darf, ist das abendliche Fest ahâl. Es handelt sich hierbei um eine Zusammenkunft  unverheirateter Frauen und Männern verschiedener Stämme, die sich näher kennenlernen können. Da die Jungfräulichkeit bei den Tuareg keine Bedingung für eine Ehe ist und das Wort Jungfrau im Sprachgebrauch nicht vorkommt, können die jungen Menschen selbst entscheiden, wann sie und vor allem auch wen sie heiraten wollen.

Darüber hinaus ist es den volljährigen Jungen nun gestattet bei Hochzeiten, Schwert­vorführungen und großen Reiterfesten in der Tanzarena mit ihren Kamelen zu tanzen und Figuren zu reiten.11 Die Jungen ziehen für die Auftritte besonders schön bestickte Kleidung und ihren besten tagelmust an, schmücken das Dromedar mit glückver­heißenden Talismanen und setzen ihm einen reich dekorierten Sattel auf. Ein bunter Knüpfteppich, der Kelim, Zaumzeug und eine Peitsche gehören ebenfalls zur Ausstattung des Tieres und des Reiters. Die Schmuckstücke und Amulette sind kunstvoll verziert und von den besten Metallschmieden in der Nähe der Oase Touat im heutigen Algerien in Handarbeit gefertigt.

Die Tuareg-Schmiede

Tuareg, Sattel

Sattel, Frontansicht mit Kreuz

Die Sättel der Tuareg sind Einzelstücke, die auf Bestellung in speziellen Holzwerk­stätten in schweißtreibender Handarbeit angefertigt werden. Die besten Sattelschmiede, enad, ihrer Zunft arbeiten im Aïr-Bergland in der Nähe der Stadt Agadez im heutigen Niger. Bei den Nomaden gibt es unterschiedliche Gruppen von Handwerkern, die als Schmiede bezeichnet werden: Holzschmiede, Metallschmiede, Lederschmiede. Ihnen werden übernatürliche Kräfte zugesprochen, da sie ohne Schaden zu nehmen mit dem Feuer Eisen bearbeiten können, oder aus Holz oder Leder Gegenstände herstellen. Im mystischen Glauben nutzen „Dschinnen und Geister nämlich Bäume als ihren Wohnsitz und Metall als Waffen“.12

Die Sättel zeugen vom sozialen Status und von der Stammeszugehörigkeit des Besitzers und können, je nach Ausstattung und Größe, ein Vermögen kosten und in mehreren Wochen oder Monaten angefertigt werden. Sie werden direkt hinter die Vorderbeine des Tieres im vorderen Bereich des Höckers geschnallt. Deshalb ist der Unterbau des Sattels der Körperform des Dromedars, mehri, angepasst. Insgesamt kann der Reitsitz, tamzak, 80 cm hoch, 77 cm lang und 40 cm breit sein und mehrere Kilo wiegen.13

Das Zusammenspiel verschiedener Materialien

Der Sattel wird aus Holz, Leder, Fellteilen, Messing, Kupfer, Weißblech und Baumwollstoff hergestellt, die so kombiniert werden, dass sie die höchsten Belastungen aushalten können und für den Reiter ausreichenden Sitzkomfort bieten. Das benötigte Material zum Fertigen eines Sattels wird zumeist auf den nah gelegenen Märkten in den Oasen erworben. Nur der Hauptbestandteil, das Holz der Euphorbien-Staude ist schwer in der Wüste zu finden. Deshalb wird es auch nicht auf den Handelsplätzen verkauft, sondern muss von dem Schmied gesammelt werden. Der Sattelmacher zieht dafür in die Sahelzone oder in die ausgetrockneten Flusstäler, wadis, weil die Stauden nicht direkt in der Wüste wachsen können, da sie Süßwasser benötigen. Ihre Wurzeln können bis zu 35 m tief ins Erdreich eindringen, jedoch vertragen sie kaum den salzigen Boden der Sahara. Die Pflanze entwickelt erst mit gewissem Alter einen dickeren und festeren Stamm, dessen helles Holz man für die Sattelfertigung benutzt. Er wird nie sehr umfangreich, so dass die hohe Rückenlehne und der runde oder längliche Sitz des Sattels aus kleineren Stücken zusammengesetzt werden müssen. Die Vorteile dieses seltenen Holzes sind, dass es sich leicht verarbeiten lässt, weiß und relativ leicht ist, so dass es den Sattel nicht unnötig schwer macht.

Die Entstehung eines Sattels

Der Sattelmacher arbeitet mit einer besonderen Technik. Wie ein Holzschnitzer bear­beitet er das Holz fast ausschließlich mit Hilfe einer Dechsel, einem Querbeil. Gelegentlich verwendet er eine Feile oder ein Messer. Dabei verlässt sich der Schmied nur auf sein Augenmaß und benutzt keine anderen Hilfsmittel, denn „sein geschultes Auge erkennt alle Unregelmäßigkeiten sofort“.14 Er benötigt für einen Sattel drei Holzstücke für den vorderen Knauf und vier Stücke für die Lehne, die später zusam­mengesetzt und mit Holzstiften fixiert werden. Heutzutage weichen manche Schmiede von der alten Tradition ab und verwenden auch Klebstoff, um die Einzelteile zusammen zuhalten.

Die Frauen und Mädchen der Schmiede verarbeiten das Leder oder Stoffe für die Vollendung des Sattels. Sie bringen das Dekor aus Gravuren, Schnitten und Farben auf dem gegerbten Leder an und flechten darüber hinaus die Zügel aus weicher aber widerstandsfähiger Ziegenhaut.15 Dazu wird die Haut mit pflanzlichen Beizmitteln enthaart und dann zum gerben in ein Ton- oder Holzgefäß gegeben, das mit einer Mixtur aus Wasser und Akazienschoten gefüllt ist. Da in den Schoten Tannin, ein natürlicher Farbstoff, enthalten ist, färben sich die Lederstücke rötlich oder gelblich, je nach Dauer der Einweichphase und des Gehaltes des Tannins.

Die mystische Komposition von Materialien, Mustern und Farben

Der Aufbau des Sattels ähnelt einem Stuhl mit einer schmalen Lehne, die mittig in einem Zacken gipfelt, der vollständig mit Messing verkleidet ist. An der Vorderseite des Objekts ragt ein dreizackiger, einem Kreuz ähnelnder Sattel­knauf in die Höhe, der über dem Niveau der Lehne endet. Den Rahmen des Reitsitzes bildet ein Holzgestell, das mit Leder in verschiedenen Färbungen und Fellteilen überzogen wird. Diese werden mit Hilfe von Haferschleim und winzigen Nägeln fixiert. Die Rückenlehne ist auf der Rückseite mit aufwendigem Dekor aus Weißblech- oder Silberstreifen, gefärbten Stoffstückchen und Leder verziert. Die einzelnen Elemente der Sattelrückseite können wiederum mit Symbolen und Zaubersprüchen ornamentiert sein, die dem Reiter Glück bringen und vor dem bösen, neidvollen Blick schützen sollen. Die Verzierungen bestehen häufig aus Dreiecken, Quadraten oder Kreisen in Grün, Rot oder Schwarz.16

Die Spitzen des Sattelknaufes ragen in die Höhe und sollen so die Verbindung vom Reich der Erde und dem Reich des Himmels, irdischer und übernatürlicher Welt sym­bolisieren. Die dekorative Ausgestaltung ihrer Gebrauchsgegenstände ist eng mit den Eigenschaften der Umwelt verbunden. Der kreuzförmige Sattelknopf kann ebenfalls für das Auge des Nachtvogels, aus den Legenden der Nomaden, stehen, der dem Reiter in der Dunkelheit „exaktes Sehvermögen verleihen und Schutz vor den Nacht­geistern bieten soll“.17 Diese Eigenschaften sind besonders bei nächtlichen Jagdausflügen oder Karawanen wichtig, die nach dem Untergang der Sonne nach einem geeigneten Lagerplatz suchen. Ferner stehen „Kreuzformen sowie das Dreieck für die Göttin Tannit“,18 einer Schutzgöttin, die aber auch Unheil und Zerstörung bringen kann, wenn man die ihr gegebenen Versprechen nicht einlöst.

Tuareg, Sattel

Sattel, Seitenansicht mit Rückenlehne, Sitz und Vorderseite

Nicht nur die Natur und deren Geister finden in der Tuareg-Mystik ihre Bedeutung. Sogar das Last- und Reitkamel, das von dem Menschen bezwungen und domestiziert wurde, zeugt von einer mystischen Macht für die Nomaden. Es steht für das Leben auf dem Boden. Das Dromedar kann nicht wie ein Fisch schwimmen oder wie ein Vogel in den Himmel steigen. Es ist eng mit der Erde und dem Lebensraum der Sahara, dem Sand, den Dünen und den Steinen verbunden. Die Lüfte dagegen sind die Heimat der Vögel, die Unabhängigkeit und Freiheit symbolisieren und sich im Gegensatz zum Kamel nur schwer auf dem Erdboden fortbewegen können. So ist es nicht verwunderlich, dass der Sattelknauf, mit seiner Kreuzform, die Himmelsrichtungen symbolisieren kann sowie die Sternbilder des Merkur, der Venus, des Mondes und der Sonne, die als Himmelsbilder aus den Tuareg-Legenden bekannt sind und unseren Sternbildern entsprechen. Das Kreuz symbolisiert den Akazien-Baum, der als „Symbol für Männlichkeit“19 gewertet wird. Die magischen Eigenschaften der Ornamente werden besonders bei Reit-Tanzaufführungen geschätzt, weil sie unangenehme Zwischenfälle verhindern sollen. Darüber hinaus steht der Akazienbaum, der im Sprachgebrauch der Tuareg „ténéré“ genannt wird, für eine kleine Trommel. Sie wird mit Ziegenhaut überzogen und bei Festen von Frauen gespielt. Die Bäumchen sind zumeist in der Nähe von Brunnen zu finden und gedeihen vereinzelt auch in der Einöde. Die Akazie ist ebenfalls eine Metapher für das Leben und die widerstandsfähige Natur, den fortwährenden Kampf ums Überleben und das Durchhaltevermögen in einer kargen und trockenen Umgebung.

Magie und Mystik der dekorativen Verarbeitung der Farben

Tuareg, Sattel

Frontansicht, Dekor des Kreuzes

Außerdem ist die Farbwahl der verwendeten Stoffe und des Leders nicht zufällig gewählt. Die Verzierungen der Sättel werden von Frauen und Mädchen des Sattelmacher-Stammes in mühseliger Handarbeit gefertigt. Sie enthaaren, gerben und färben das Leder mit Mischungen aus pflanzlichen und mineralischen Stoffen.20 Von ihren Müttern und Großmüttern lernen sie Ritzt- und Maltechniken, die sie mit Hilfe von einem Ledermesser anbringen. Die Klinge und die Spitze werden für das Schneiden und Gravieren der Tierhaut benutzt. Das hintere Ende des Messerknaufes wird als Malwerkzeug verwendet. Zum Vernähen der Lederstreifen eignet sich dann eine ‚Ahle‘, eine stabile Nadel, aus Metall oder Knochen. Damit werden kleine Löcher im Material angebracht, um ein festes Band durchziehen zu können.

Tuareg, Sattel

Buntes Dekor der Rückenlehne

Der grüne Farbton ist einerseits eine Metapher für fruchtbare Oasen und Natur, anderseits kommt er in der islamischen Architektur und Kultur häufig vor. Es ist die weit verbreitete „Farbe der Dächer im Maghreb“21 und der Minarettbeleuchtung, die aus der islamischen Tradition stammen. Laut der Überlieferung der Geschichten des Propheten Mohammeds trug dieser vorzugsweise Gewänder aus grün gefärbten Stoffen.22 Wohl kannte er ebenfalls die Eigenschaften, die dieser Farbe seit Generationen zugeschrieben werden. Der Farbton steht für das Leben, die Erneuerung, die lebendige Natur, die Freude, das Glück und die Hoffnung. Auch im europäischen Raum und in Asien findet man sehr ähnliche Erklärungen für diese Farbe.

Ferner werden rote Schattierungen für Verzierungen verwendet. Sie sind dadurch auch gut von weitem sichtbar, da sie einen starken Kontrast zu den eher hellen, sandigen und bräunlichen Farben der Wüste bilden. Die Tuareg-Nomaden, die gute Beobachter der Natur sind, verbinden die Farbe Rot mit ihrer Umgebung, mit den Erscheinungen des Himmels, den Kakteenblüten oder mit dem Feuer, dem mystische Eigenschaften zugeschrieben werden. Häufig wird deshalb der Farbton mit dem Sonnenuntergang in Verbindung gebracht, der den Übergang von der Hitze des Tages zu der Kühle der Nacht darstellt. Die Farbe steht ebenfalls für den Kreislauf des Lebens. Rote Steine, die häufig zu Ringen mit einer Silberfassung verarbeitet werden oder als Halsschmuck getragen werden können, stehen für die Fruchtbarkeit der Frau, das neue Leben, das in ihr heranwachsen kann und die Menstruation.

Tuareg, Sattel

Frontansicht, Dekor der unteren Seite des Vorderstücks

Es ist ebenfalls die Farbe des Blutes, des Lebenselixiers der Lebewesen und das Blut der Opfertiere, die bei „besonderen Ritualen geopfert werden“.23 Die Opferung von vorzugsweise schwarzen Ziegen basiert auf den vorislamischen bzw. heidnischen Kulten der Tuareg. Schwarz symbolisiert dabei die Welt des Übernatürlichen.

Geometrische Zeichen als Tierspuren im Sand und Schutz vor Geistern

Geometrische Formen, die von den geschickten Fingern der Frauen auf den Sätteln angebracht werden, haben „allesamt eine mystische Bedeutung“24 für die Tuareg. Die gemalten und eingravierten Dreiecke im Dekor des Reitsitzes symbolisieren einerseits die Silhouette des Rückens einer sitzenden Frau als Schutzsymbol und Stärke des Weiblichen, anderseits stehen sie für die Macht der Göttin Tannit. Es ist ein Sinnbild für die Weisheit und das Ansehen der Frau, aber es ist auch gleichzeitig ein Zeichen der Anmut, Grazie und Güte der Mädchen und Frauen. Vor allem ältere Frauen werden bei den Nomaden für ihre Lebenserfahrung sehr geschätzt und können auf Grund dessen bei Problemen oder Krankheiten helfen. Sie fungieren häufig als Zauberinnen, Wahrsagerinnen oder Kräuterkundige, die sich in der Naturmedizin auskennen. Ferner sind die Mütter, Tanten und Großmütter für die Überlieferung und die Kunst des Dichtens, Schreibens, Singens und des Trommelns zuständig und geben ihr Wissen an den Nachwuchs weiter. Die Dreiecke können aber auch, mit Punkten aus­gefüllt, Tier- oder Vogelspuren im Sand symbolisieren. Es gibt mehrere Kombinationen aus Dreiecken, Punkten und geraden Linien.25 Je nachdem, um welches Lebewesen es sich handelt, können sie die Pfotenabdrücke eines Schakals, die Hufabdrücke eines Mufflons, einer Gazelle oder eines Vogels (Abb. 6) darstellen.

Tuareg, Sattel

Oberseite des Kreuzes, Dekor

Bereits als Kinder lernen die jungen Tuareg bei Jagdausflügen mit ihren Vätern die Spuren zu deuten und die Fährte ausfindig zu machen. Zwei schmale, verschieden große Dreiecke, deren Spitzen in unterschiedliche Richtungen zeigen, können als die Spur im Sand einer Gazelle interpretiert werden. Auf diese Weise wird die Form der Hufe des grazilen Tieres nachempfunden. Dies zeugt von der genauen Beobachtung  der Natur und Tiere sowie der engen Naturverbundenheit der Tuareg. Solche Verzierungen, vorzugsweise an Köchern oder Jagdbeuteln angebracht, verheißen dem Jäger Glück, Mut und Ausdauer bei der Jagd und in Kombination mit Kreuzformen wehren sie negative Einflüsse ab.

Magische und mystische Verzierungen basierend auf der Beobachtung der Natur

Ferner gibt es eine Verzierung, die sich aus zwei nebeneinander stehenden Dreiecken zusammensetzt. Wahrscheinlich stellt sie die Spur eines Vogels dar, der nur sehr selten in der Wüste zu finden ist. Normalerweise überqueren Zugvögel die Sahara auf der Suche nach fruchtbaren Gründen, wo sie sich nach dem langen und anstrengenden Flug ausruhen und fressen können. Nur selten kann man einen Vogel auf der Erde beobachten, meistens nur dann, wenn er krank oder zu schwach ist, um weiter­zufliegen.

Tuareg, Sattel

Seitenansicht, geometrische Muster unterhalb des Sitzes

Die runden Punkte verschiedener Größe und Kreise im Dekor können für das gute Auge stehen, das den bösen Blick abwehrt und die negative Wirkung von Flüchen und Verwünschungen aufhebt. Kreise können ebenfalls ein Zeichen für einen Brunnen, die Sonne, den Vollmond und den Kreislauf des Lebens sein. Ein Brunnen oder eine Quelle spendet, die zum Leben notwendige Flüssigkeit. Ohne Wasser kann man nicht überleben und es ist das höchste Gut in der Einöde. Die Sonne, die alles austrocknet und zu Dürreperioden führen kann, wenn es nicht genug regnet, kann zum einen Leben geben, gleichzeitig aber Leben nehmen. Ohne Sonnenstrahlen kann keine Saat aufgehen, aber zu starke Strahlen können wiederum die Ernte oder Weideplätze verbrennen und zerstören. Der Mond ist ebenfalls wichtig für die Ausübung von magi­schen Ritualen der Magier oder Musikfeste der Tuareg. Runde Formen und Kreise sind auch in anderen orientalischen und asiatischen Kulturen bekannt.26

Die Tuareg in der Moderne

Die Nomaden glauben an das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur und übernatürliche Kräfte. Deshalb sind auch alle ihre Handlungen und Gebrauchsgegenstände von der Mystik, dem Glauben an Wüstengeister und Dschinnen geprägt. Das ganze Leben wird mit dem Glauben gestaltet und geht mit bestimmten Ritualen einher, wie das Fest der Volljährigkeit oder eine Aufführung in der Tanzarena mit dem Dromedar. Die Ausstattung des Tieres und des Reiters ist immer mit magischen Symbolen und mystischen Zeichen ornamentiert, die beide vor den Einflüssen der Geister bewahren sollen. Nichts in der Gestaltung ist dem Zufall überlassen: Punkte, Dreiecke, Linien und Farben werden so kombiniert, dass sie die Spuren eines Tieres im Sand, die Elemente der Natur, die Weiblichkeit oder Sternenbilder darstellen. Die Tuareg sind sehr gute Beobachter ihrer Umwelt und verfügen über ein enormes Wissen, das mit Hilfe von Legenden und Sagen seit Generationen an die Nachfahren weitergegeben wird. Ähnlich verhält es sich mit Techniken für die Verarbeitung und Dekoration von Erzeugnissen aus Holz, Leder oder Metall. Sie werden in speziellen Werkstätten von den Schmieden gefertigt, sind weitgehend Unikate und basieren auf alten überlieferten Arbeitsweisen.

Tuareg, Sattel

Oberseite des Sitzes mit Übergang zur Rückenlehne, geometrische Symbole

Leider gehen die Traditionen und der alte Glaube der Tuareg mit dem Wandel der Zeit immer weiter zurück, ihre Waisen und Heilkundigen werden von der Gesellschaft in Algerien, Libyen, Tunesien, Niger und Mali, häufig verteufelt und rücken immer mehr in die Illegalität. Durch lange Dürreperioden in der Wüste, das sich verändernde Klima und die Sesshaftmachungspolitik der einzelnen Länder sind sie gezwungen, sich der Moderne anzupassen. Das Dromedar, das einst mit den Karawanen auf der Salzstraße zog, ist durch den Geländewagen abgelöst worden, die Zelte durch gemauerte Häuser und das nomadische Leben durch Bildung von Siedlungen.27 Nur noch wenige der Tuareg-Stämme sind noch in kleinen Verbänden als Nomaden in der Wüste zu finden. Nichtsdestotrotz findet man ihre Kunsterzeugnisse auf den Märkten, die von tiefem mystischen Glauben und Naturverbundenheit sowie anspruchsvoller Handfertigkeit zeugen. Umso mehr man ihre Bedeutung ins Bewusstsein der westlichen Welt stellt und sie als Kulturwelterbe ansieht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Volk mit ihrem Kunsthandwerk und ihren alten Traditionen überleben kann.

  1. Ethnologisches Museum, Berlin / Hanna Sotkiewicz
  1. Pansegrau, Erhard: Wunderbare Wüste. Durch Sahara und Sahel. Dortmund 1990, S. 10.
  2. Vgl. Göttler, Gerhard: Die Sahara. Mensch und Natur in der größten Wüste der Erde. Köln 1984, S. 12.
  3. Algerien. Kunst, Kultur und Landschaft. Von den Stätten der Römer zu den Tuaregs der zentralen Sahara. Köln 1974.
  4. Die Sahara. Mensch und Natur in der größten Wüste der Erde. Köln 1984.
  5. Das Agadezkreuz. Strukturelle Bestandteile der Form vom Typus „Agadezkreuz“ und seiner Modifikation. Stuttgart 1998.
  6. Tuareg in Libyen. Identitäten zwischen den Grenzen. Berlin 2007.
  7. Tuareg. Eine Nomadenkultur im Wandel. Darmstadt 2002.
  8. Vgl. Hureiki, Jacques: Tuareg. Heilkunst und spirituelles Gleichgewicht. Schwülper 2004, S. 40-48.
  9. Al-Kauni, Ibrahim: Telefonisches Interview am 10. Oktober 2008.
  10. Al-Kauni, Ibrahim: Telefonisches Interview am 10. Oktober 2008.
  11. Vgl. Bernus, Edmond: Art of Being Touareg: Sahara Nomads in a Modern World. Los Angeles 2006, S. 16-25.
  12. Vgl. Bendel, François: „Die Schmiede der Tuareg von Azawak“. In: Sahara. 10.000 Jahre zwischen Weide und Wüste. Köln 1978, S. 371.
  13. Vgl. Gabus, Jean: Kunst der Wüste. Formen, Zeichen und Ornamente im Kunsthandwerk der Saharavölker. Olten 1960, S. 280-281.
  14. Gabus, Jean: Kunst der Wüste. Formen, Zeichen und Ornamente im Kunsthandwerk der Saharavölker. Olten 1960, S. 283.
  15. Vgl. Strelocke, Hans: Algerien. Kunst, Kultur und Landschaft. Von den Städten der Römer zu den Tuaregs der zentralen Sahara. Köln 1974, S. 207.
  16. Vgl. Gabus: Kunst der Wüste, S. 280-284.
  17. Vgl. Kubisch, Natascha: „Der Maghreb: Von Marokko bis Tunesien“. In: Islam. Kunst und Architektur. hrsg. v. Peter Delius / Markus Hattstein. Köln 2000, S. 311.
  18. Al-Kauni, Ibrahim: telefonisches Interwiev vom 10. Oktober 2009.
  19. Vgl. Cesco, Federica: Tuareg. Nomaden der Sahara. Berlin 1971, S. 146.
  20. Vgl. Strelocke, Hans: Algerien. Kunst, Kultur und Landschaft. Von den Städten der Römer zu den Tuaregs der zentralen Sahara. Köln 1974, S. 207-209.
  21. Vgl. Chebel, Malek: Symbole des Islam. Wien 1997, S. 114.
  22. Vgl. Ebd., S. 116.
  23. Vgl. Hureiki, Jacques: Tuareg. Heilkunst und spirituelles Gleichgewicht. Schwülper 2004, S. 53.
  24. Vgl. Göttler, Gerhard: Die Tuareg. Kulturelle Einheit und regionale Vielfalt eines Hirtenvolkes. Köln 1989, S. 221.
  25. Vgl. Creyaufmüller, Wolfgang: Das Agadezkreuz. Strukturelle Bestandteile der Form vom Typus „Agadeskreuz“ und seiner Modifikation. Stuttgart 1998, S. 67-73.
  26. Vgl. Louis, Frédéric: Les Dieux du Bouddhisme. Paris 2003, S. 62-63.
  27. Vgl. Kohl, Ines: Tuareg in Libyen. Identitäten zwischen den Grenzen. Berlin 2007, S. 70-72.

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