Wissenschaftliche Aufsätze
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Die Bildunterschrift und das Photographische

Wie in vielen anderen Arbeiten Alexander Kluges, der als Regisseur, Fernsehproduzent und Schriftsteller ganz explizit mit verschiedenen Medien arbeitet und diese oftmals kombiniert, treffen auch in seinem Roman „Schlachtbeschreibung – Organisatorischer Aufbau eines Unglücks“1 Texte und Bilder aufeinander. Kluge bezieht in diesem Roman, der das Kriegsgeschehen in Stalingrad im Winter 1942 bis 1943 zum Gegenstand hat, unterschiedliche Bildgattungen ein, nutzt Photographien ebenso wie Zeichnungen und Malerei, Comic-Strips oder Landkarten und reproduziert diese unterschiedlichen Gattungen als konstitutiven Bestandteil des fiktionalen Romantextes. Dabei begründet nicht allein das räumliche Zusammentreffen von Schrift und Bild auf einer Romanseite eine Beziehung zwischen den einzelnen Medien. Denn im Gegensatz zu bestimmten Buchillustrationen, die quasi kommentarlos, eine einzelne Bildseite vom Fließtext absetzen, das Bild selbst also aus der Kontinuität der Schrift lösen und lediglich als abgeleitete Form des Textes begreifen, zeigt Alexander Kluge in „Schlachtbeschreibung“, dass Bilder hier nicht eine bloße Zugabe zum Text sind, der ohne ihren Einbezug auf gleiche Weise funktionieren würde.

Entgegen der Behauptung Hyun Soon Cheons, Kluges Texte wären „prinzipiell ohne die Bilder lesbar und verständlich“,2 möchte ich im Folgenden exemplarisch zeigen, wie ein Text, der in dieser Untersuchung als Bildbeschriftung in Erscheinung tritt, innerhalb des Romans auf eine Photographie zugreift, das Photographische gleichzeitig aber diesem Zugriff widersteht, Textbedeutung und Bildbedeutung also in Konflikt geraten. Jene „Bild-Text-Einheiten“,3 die von der neueren Forschung im Werk Alexander Kluges immer wieder entdeckt und oft in die Nähe der frühneuzeitlichen Emblematik gestellt werden,4 möchte ich deshalb als durchaus „kritische“ Einheiten verstehen. Denn in ihnen ist oftmals ein bedeutsamer Widerstreit zwischen den Medien angelegt. Wenn im Folgenden also Kluges künstlerische Umgangsweise mit einem photographischen Bild und dessen Bildunterschrift näher betrachtet wird, soll darauf aufmerksam gemacht werden, inwieweit gerade ein Text Bildbedeutungen evozieren, andeuten oder fixieren kann beziehungsweise in welchem Grad die bloße Sichtbarkeit des Bildes Mehrdeutigkeiten produziert, die dem Text wiederum entgegenstehen.5 Dabei beschränkt sich diese Detailuntersuchung auf eine direkte Interaktion zwischen Photographie und Beschriftung, ohne die Struktur des Romans in umfassender Weise einbeziehen zu können.6 Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, das Funktionieren einer spezifischen Bild-Text-Relation in Kluges Roman zu beschreiben.

Das Photographische

Auf Seite 527 des Romans, der nicht nur Bilder integriert, sondern fiktionale Textpassagen neben historischen Dokumente ordnet,7 findet sich folgende schwarz-weiß-Reproduktion einer Photographie, die zunächst ohne ihre Beschriftung betrachtet werden soll (Abb.1). Fast die gesamte Bildfläche wird von einer runden Öffnung eingenommen, die ins Erdreich führt. In ihrer Mitte und annähernd im Bildmittelpunkt befindet sich ein Soldat, dessen Körper unterhalb der Erdoberfläche verschwindet und dadurch kaum zu erkennen ist. Nur sein behelmter Kopf ragt aus dem Untergrund hervor. Sein Gesicht bleibt unkenntlich, die Augen sind verdeckt und nur der Nasenrücken wird erhellt. Der Soldat trägt ein Maschinengewehr, dessen Lauf noch zur Hälfte aus der Öffnung ragt und zum rechten Bildrand weist. Die Öffnung selbst ist von Beton umgeben. In der linken und rechten oberen Bildecke sind einzelne Grasbüschel zu erkennen.

Worin, könnte man fragen, besteht die Funktion dieser Photographie? Macht sie, die aus dem Kampfgeschehen des Zweiten Weltkriegs zu stammen scheint, ein historisches Geschehen (die Schlacht von Stalingrad) beziehungsweise vergangene Wirklichkeit ansichtig? Vieles scheint dafür zu sprechen: Der Soldat, der aufgrund seines Helmes als deutscher Soldat zu erkennen ist, das Gewehr, das, wie die Uniform, auf eine Kriegssituation schließen lässt, sowie die eigenwillige Form der Verbarrikadierung. Lässt das photographische Bild also Vergangenheit gleichsam unvermittelt aufscheinen? Eine bestimmte Sicht auf die Photographie behauptet genau dies:

„Die Dokumentarfotografie liefert uns den sichtbaren Beweis dafür, dass Dinge wie Kriege, gesellschaftliche Verhältnisse und Ereignisse, (…) von denen wir wahrscheinlich nichts erfahren hätten, tatsächlich zu einer bestimmten Zeit stattgefunden haben. (…) Sie (…) liefern uns eine wirklichkeitsgetreue Sicht der Vergangenheit.“8

Dieses Verständnis der dokumentarphotographischen Praxis als Abbildung eines Ereignisses, das unvermittelt im Bild wieder erscheint, ist so alt wie die Photographie selbst.

So sprach William Henry Fox Talbot in seinem Buch The Pencil of Nature (1844-46) konkret davon, dass die Photographie „durch nichts anderes zustande gekommen“ ist, „als durch die Einwirkung des Lichts auf empfindlich gemachtes Papier. (…) Die Hand der Natur hat sie abgedruckt.“ 9 Da die Natur selbst das photographische Bild „gestaltet“, weil das natürliche Licht auf ein lichtempfindliches Papier einwirkt und auf den ersten Blick eben nur ein physikalisch-chemischer Vorgang (derjenige der Belichtung) sichtbar wird, welcher von der „Ungenauigkeit“ einer menschlichen Hand, zugunsten der „Objektivität“ eines Apparats gereinigt ist, scheint es zunächst so, als würde Wirklichkeit und damit Vergangenheit, wie sie gewesen ist, in der Photographie aufleuchten.

Tatsächlich erhält die Technik der Photographie eine ganz spezielle Bindung an die Realität aufrecht:

„Das endgültige Negativ (…) zeigt nichts anderes als das physische Signal eines physischen Objekts, die zufällige Umwandlung von Halogensilberkörnern auf Grund einer Lichtemission.“10

Die historischen Verfahren der bildlichen Wirklichkeitsrepräsentation durch einen Künstler, der die Realität transformierte und nach gewissen historischen Normen und Gesetzmäßigkeiten die subjektive Ansicht eines Gegebenen schuf, scheint durch die Photographie obsolet geworden zu sein. Der Künstler, als vermittelnde Instanz zwischen Realität und Bild, entfällt und eine objektive Komponente, der Vorgang der Belichtung, tritt an seine Stelle. Es hat den Anschein, als genüge die bloße Sichtbarkeit des photographischen Bildes, um uns Wirklichkeit zu zeigen, wie sie tatsächlich war oder ist.

Der technisch-physikalische Kern der Photographie sorgte also in früheren Überlegungen für den Glauben an die reale Präsenz des Abgebildeten im photographischen Bild. Es soll an dieser Stelle weder darum gehen, die Photographie als tatsächliches Analogon der Wirklichkeit zu begreifen, also ein Moment der Identität zwischen Abbildung und Abgebildetem zu postulieren, noch möchte ich behaupten, die Photographie hätte nichts mit Wirklichkeit zu tun. Zu behaupten, die photographische Technik würde Bilder erzeugen, die nur noch eine Referenz simulieren,11 bedeutet gleichzeitig, die Realität hinter allen Photographien zum Verschwinden zu bringen, sie also wesentlich als Schein zu hypostasieren. Doch die Kritik an der naiven Vorstellung, die Dokumentarphotographie präsentiere die Wirklichkeit so wie sie gewesen sei, kann die Referenzialität der Photographie nicht zur Gänze bestreiten. Denn ihr technischer Kern beruht (selbst im digitalen Zeitalter) auf der Existenz von realen, dinghaften Objekten, die Licht reflektieren. Es müssen stattdessen Probleme skizziert werden, die die eigenwillige, aber nicht zu leugnende Bindung der Photographie an die Wirklichkeit als realen Referenten mit sich bringt.

Das Unbestimmte der Photographie

Sobald man nämlich benennen muss, welches konkrete Ereignis die obige Photographie vergegenwärtigt, stößt man augenblicklich auf die Sprachlosigkeit des Bildes. Abgesehen vom Kontext, in den das Bild eingebettet ist (ein Roman über Stalingrad), sagt die Photographie selbst nichts über Stalingrad. Weder können wir den konkreten historischen Zeitpunkt der Aufnahme aus der bloßen Sichtbarkeit des Bildes entschlüsseln, noch den zugehörigen Ort (ist diese Gegend wirklich Stalingrad?) oder überhaupt etwas über den dargestellten Soldaten sagen. Noch komplizierter wird die Bestimmung der Referenz des Bildes durch sein Erscheinen innerhalb eines Textes, der mit Fakten und Fiktionen spielt, Materialien ausgewiesener und nachvollziehbarer Quellen mit frei erfundenen Passagen und Abschnitten mischt. Dass jener Soldat wahrscheinlich ein deutscher Soldat ist (die Form des Helmes, der Typ des Gewehrs), verrät uns darüber hinaus nicht ausschließlich die Sichtbarkeit des Bildes selbst, sondern vor allem ein interpretativer Zugriff des Betrachters, der über ein kulturelles Wissen verfügt, das man eventuell als „militärhistorisches Wissen“ bezeichnen könnte. Die Referenz des Bildes erscheint auf dieser ersten Beschreibungsebene also wesentlich polyvalent. Wir blicken zwar auf Wirklichkeit, können diese aber nicht präzise bestimmen und das spezifische Ereignis auf der Sichtbarkeit der Bildoberfläche festlegen. Denn das Ikonische veräußert die ihm inhärenten möglichen Bedeutungen (und eine mögliche Referenz) nicht unmittelbar von sich aus, so wie es die naive Vorstellung der dokumentarischen Photographie unterstellt.

Bereits bei dieser ersten und probeweisen Identifikation einer Ansammlung von Linien, Flächen und Schattierungen als einer bedeutenden Konfiguration (einem „deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg“), gehen wir nicht mehr vom bloßen „natürlichen Sujet“ im Sinne Panofskys12 aus, sondern von einer konventionalisierten Äquivalenz beziehungsweise einem kulturellen Wissen. Wir identifizieren eine Sichtbarkeit als Etwas und das heißt, dass wir mit Hilfe unseres Weltwissens einer bestimmten ikonischen Konfigurationen auf der Bildfläche eine Bedeutung zuweisen, denn, „um etwas Gesehenes als etwas erkennen zu können, bedarf es weiterer Kompetenzen, die über die bloße sinnliche Wahrnehmung oder Empfindung hinausgehen.“13 Zu behaupten, eine Photographie gebe unvermittelte Wirklichkeit wieder, stelle also Ereignisse genau so dar, wie sie gewesen sind, wird somit in Zweifel gezogen, weil die Rezeptionscodes des Bildbetrachters darüber bestimmen, was dieser überhaupt als Etwas erkennen kann. Ohne ein spezifisches Weltwissen würde jede Photographie nicht mehr als etwas bloß Sichtbares sein. Formen und Objekte könnten nicht als etwas Bestimmtes erkannt werden. Folglich setzt sich das photographische Bild aus der Verbindung einer Spur des Wirklichen (von Objekten reflektiertes Licht, das auf das Photopapier/die Bildsensoren trifft) und der Konventionalisierung auf Seiten eines Rezipienten zusammen, der jene Spur als Etwas identifiziert.

Roland Barthes und die „fluktuierende Kette der Signifikate“

Roland Barthes hat diese Verbindung von Spur (Präsenz) und Codierung (Repräsentation) in mehreren Aufsätzen sowie in seinem letzten Buch „La chambre claire“ untersucht. Seine Überlegungen zur Photographie sind deshalb so fruchtbar, weil sie beide Pole des photographischen Bildes, Wirklichkeit und Konventionalisierung umfassen. Die Photographie ist für Barthes in den 1960er Jahren vor allem ein „Paradox“.14 Auf der einen Seite ist sie das „perfekte Analogon“ zur Wirklichkeit und damit „eine Botschaft ohne Code“,15 doch gleichzeitig ist sie als Analogon von einer zweiten Botschaft durchsetzt:

„Dieser rein ‚denotierende‘ Status der Fotografie, die Perfektion und die Fülle ihrer Analogie, kurz, ihre ‚Objektivität‘, all das könnte durchaus mythisch sein (…): Denn in Wirklichkeit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit (…), daß die fotografische Botschaft (…) ebenfalls konnotiert ist.“16

Der Begriff der Konnotation umfasst hierbei ein Moment des „Gemachtseins“ des photographischen Bildes, das aber durch die erste Botschaft (Analogie) dissimuliert wird: „Die Fotografie gestattet dem Fotografen, die Vorbereitung zu verbergen, die er an der Szene, die er einfangen wird, vornimmt.“17 Aber nicht nur die Vorbereitung (das Posieren des Objekts, die Inszenierung einer Szene), sondern auch das Nachbereiten (Photomontage, Retusche) zählen für Barthes zu den Verfahren der photographischen Konnotation. Gerade jene Verquickung von Denotation und Konnotation lässt die Photographie nicht mehr als natürliches Analogon der Wirklichkeit erscheinen. Hierin besteht das photographische Paradox einerseits ein Analogon, andererseits eine codierte Botschaft zu sein.

Das Interessante an diesen Betrachtungen Barthes’ ist, dass er die Analogizität der Photographie trotz der in jeder „Bildlektüre“ mitschwingenden Codierungen nicht aufgibt. In „La chambre claire“ schreibt er ganz explizit:

„‚Photographischen Referenten‘ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe. Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. (…) Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der Photographie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit.“18

Das Wesen der Photographie im Sinne Barthes gerinnt in der Bemerkung, dass das photographische Bild ein „Es-ist-so-gewesen“19 zeige und gleichzeitig dieses ,So-gewesen-sein‘ nur durch die „Brille“ codierter Konventionalität veräußere. Damit steht das photographische Bild für Barthes niemals außerhalb einer Kultur und kann nicht unabhängig von kulturell determinierten Produktions- und Rezeptionscodes hergestellt und betrachtet werden. Trotzdem bleibt es aber an die Existenz dinghafter Wirklichkeit gebunden.

Die Unentschiedenheit oder Mehrdeutigkeit der Bildbedeutung, die oben festgestellt wurde, ist darüber hinaus ein weiterer wesentlicher Aspekt von Barthes’ Überlegungen zur Photographie. Er begreift grundsätzlich jedes Bild als „polysemisch“.20 Es impliziert „eine unterschwellig in seinen Signifikanten (die ikonischen Elemente des Bildes, Anm. des Autors) vorhandene ‚fluktuierende Kette‘ von Signifikaten (Bedeutungen, Anm. des Autors), aus denen der Leser manche auswählen und die übrigen ignorieren kann.“21 Was Barthes hier als Offenheit der Bedeutung formuliert, die sich in den Bildern findet, stellt auch Gottfried Boehm, wenngleich mit anderen Worten, als die Eigenheit des Bildes heraus.

Boehm überträgt auf das Bild die Charakteristik der Metapher, welche er in einer Art von „Unvollständigkeit, Offenheit und Vieldeutigkeit“22 sieht. Die Metapher „evoziert Sinn, indem sie Spuren legt, Allusionen erzeugt, paradoxe Zirkularitäten in Gang setzt.“23 Boehm überträgt damit das Zusammenspiel bestimmter signifikanter Einheiten, die in Kontrast zueinander stehen und einen Sinn evozieren, der über die einzelnen Worte der Metapher hinausreicht, auf das Bild.

„Die gelungene, springende Sinnverbindung wird von einer stets gegenwärtigen Heterogenität begleitet. Das eigentliche ‚Wunder‘ der Metapher ist die Fruchtbarkeit des gesetzten Kontrastes. Er fügt sich zu etwas Überschaubarem, Simultanem, etwas, das wir Bild nennen.“24

Jener durch einen ikonischen Kontrast erzeugte „offene“ Sinn ist genau jene Polysemie, die Barthes im Bild entdeckt. Das Bild wie die Metapher besitzen trotz ihrer festgelegten Struktur (eine bestimmte, sich nicht verändernde Abfolge von sichtbaren Elementen, also Flächen, Linien, Farben beziehungsweise Graphemen), einen „fluktuierenden“ (Barthes), „offenen“ (Boehm) Sinn, der vom Rezipienten interpretierend festgelegt werden muss, ohne dass dadurch eine endgültige Entscheidung über die Bedeutung des Bildes oder der Metapher gefällt wäre.

Die Fixierung der Bildbedeutung

Für die mehrdeutige Photographie in Kluges „Schlachtbeschreibung“ (siehe Abb.1) bedeutet dies nun aber, dass aus seiner sichtbaren Oberfläche gerade nicht zweifelsfrei abzulesen ist, welches konkrete Ereignis dargestellt wird. Wir haben es mit „offenen“, „fluktuierenden“ Bedeutungsmöglichkeiten zu tun. Die Anonymität des Soldaten, die Unbestimmtheit des Zeitpunkts der Aufnahme, die Unkenntlichkeit des tatsächlichen Ortes, alles das bezeugt genau jene Mehrdeutigkeit, die Barthes dem Bild als wesentliche Eigenschaft unterstellt. Fest steht jenes „Es-ist-so-gewesen“ (die Existenz des Soldaten und des Ortes während der Aufnahme), aber die präzise Bedeutung der Photographie bleibt, wenn nicht gänzlich unkenntlich, so doch ungesichert. Damit überspielt jene „fluktuierende Kette der Signifikate“ die sichere Festlegung der Referenz des photographischen Bildes. Es kann somit nicht als Objekt wahrgenommen werden, das Wirklichkeit, wie sie tatsächlich gewesen ist, ansichtig macht. Denn was hier ansichtig wird, ist keine unmittelbare Veräußerung eines historischen Ereignisses, sondern die unbestimmte Ansammlung möglicher Bedeutungen und möglicher Ereignisse. Das Photo „bestätigt in unseren Augen die Existenz dessen, was es repräsentiert (das „Es-ist-so-gewesen“ von Barthes, Anm. des Autors), aber es sagt uns nichts über den Sinn dieser Repräsentation; es sagt uns nicht, das bedeutet dies.“25

Allerdings gibt es bestimmte Verfahren, um die überbordende Polysemie des (photographischen) Bildes zu reduzieren. Die Polysemie kann gleichsam in eine Bahn gelenkt und zugunsten einer ganz bestimmten Bedeutung vereinheitlicht werden, was die Verfälschung der tatsächlichen Bildreferenz mit einschließt. Roland Barthes sieht dieses Verfahren der Bedeutungsreduktion in der Beziehung zwischen einer sprachlichen Botschaft (der Bildunterschrift) und einem Bild und bezeichnet es als „Fixierung“:

„Es entfalten sich in jeder Gesellschaft diverse Techniken zur Fixierung der fluktuierenden Kette der Signifikate, um gegen die Schrecken der ungewissen Zeichen anzukämpfen: Die sprachliche Botschaft ist eine dieser Techniken.“26

Dabei hilft diese sprachliche Botschaft, „die Elemente der Szene und die Szene als solche ganz einfach zu identifizieren.“27 Genau diese Technik der Fixierung, die dem Bild eine sprachliche Botschaft zur Seite stellt, nutzt Alexander Kluge in „Schlachtbeschreibung“, um das photographische Bild im Roman zu „verklammern“, es auf bestimmte Weise argumentieren zu lassen. (Abb. 2) Wo bislang von einem anonymen Soldaten gesprochen wurde, erscheint nun, durch den deiktischen Bezug der Bildunterschrift auf die ikonische Präsenz der Photographie, ein „Obergefreiter Metzger“. Der  unbestimmbare Zeitpunkt der Aufnahme wird als „1. Februar 1943“ angegeben und der im Bild nicht zu identifizierende Ort wird als „Stalingrad“ bezeichnet. Die Unbestimmtheit, beziehungsweise Polysemie des Bildes scheint sich durch die Bildunterschrift zu reduzieren. Die sichtbare, kontrastreiche Struktur der Photographie, die auf vieles verweisen könnte, wird nun ganz konkret auf einen Sinn „fixiert“.

„Die Unterschrift“ also „macht das Foto, (…), letzten Endes zur Illustration des Textes, dessen Pointe sie ihm beigibt.“28 Erst die Bildunterschrift lässt die Photographie hier auf eine bestimmte Weise „argumentieren“, obwohl sie die inhärente Mehrdeutigkeit des Ikonischen nicht völlig ignorieren kann. Sie versucht vielmehr den Betrachter, trotz der eventuell vielfachen Bedeutungsmöglichkeiten des Bildes, nur eine ganz bestimmte Bedeutung wahrnehmen zu lassen.

„(D)ie Bildbeschriftung (…) hilft mir, die richtige Wahrnehmungsebene zu wählen; sie gestattet mir, nicht nur meinen Blick anzupassen, sondern auch meinen Intellekt. (…) Die Bildbeschriftung (…) entfernt ein mögliches Signifikat (…), weil es unpassend wäre, und lenkt die Lektüre auf ein schmeichelhaftes Signifikat.“29

Im Moment der Fixierung jener „fluktuierenden Kette von Signifikaten“, die im ikonischen Kontrast angelegt ist, offenbart sich damit ein durchaus regressives Moment: „(D)er Text hat einen repressiven Wert hinsichtlich der Freiheit der Signifikate des Bildes, und es ist verständlich, daß vor allem die Moral und die Ideologie einer Gesellschaft auf dieser Ebene ansetzten.“30 Wer  über ein Bild spricht, ihm einen Titel, ein Sujet, eine Interpretation zuweist, bevorzugt bestimmte, möglicherweise nach methodischen Erwägungen gestützte Sinninhalte eines Bildes, um andere zu vernachlässigen. Die Bildunterschrift des Wissenschaftlers ist wie jede andere Bildunterschrift ein Instrument, die Polysemie, Undurchsichtigkeit und Unbestimmtheit des Bildes in den Griff zu bekommen. Wenn die Bildunterschrift aber einerseits das Bild von der Unbestimmtheit unterschiedlichster Bedeutungen befreit, kann es andererseits aber ebenso falsche oder verfälschende Bedeutungen im Bild installieren. So situiert Alexander Kluges Bildunterschrift (siehe Abb. 2) das photographierte Ereignis zwar am 1. Februar 1943 in Stalingrad, doch entgegen dieser Behauptung sind in den oberen Bildecken Grasbüschel zu erkennen. Stalingrad war zu Beginn des Jahres 1943 jedoch völlig von Schnee bedeckt.31 Der Text erscheint hier als eine Botschaft, die das Bild von einem Sachverhalt sprechen lassen kann, welche in ihm selbst, also in seinen sichtbaren, ikonischen Elementen, nicht angelegt sein muss. Zwischen Fakt und Fiktion besteht gerade im Umgang mit der Beschriftung eines Bildes ein schmaler Grat, der die Bildunterschrift nicht nur als Technik der Bedeutungsfixierung, sondern sie gleichzeitig auch als Instrument zur Einschreibung „fremder“, das heißt, fiktiver Bildbedeutungen und -referenzen ausweist. In der Spannung zwischen dem ikonischen Gehalt des Bildes und der versuchten Bedeutungsfixierung durch die Bildunterschrift zeigt sich aber gerade, dass das Ikonische mitsamt seiner Mehrdeutigkeit dem Text, der es zur bloßen Illustration reduzieren kann (das Bild zum unumschränkten Abbild einer Textaussage macht), widersteht, sich die Polyvalenz des Ikonischen an der Fixierung durch die Sprache reibt.

  1. Abb. 1 | Detail aus: Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Band I. Basisgeschichten. Frankfurt am Main, 2000, S. 527.
  2. Abb. 2 | Ebd.
  1. Ich beziehe mich auf die derzeit aktuellste Fassung des Textes in Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Bd. 1, Basisgeschichten. Frankfurt am Main 2000, S. 509-793.
  2. Cheon, Huyn Soon: Intermedialität von Text und Bild bei Alexander Kluge. Zur Korrespondenz von früher Neuzeit und Moderne. Würzburg 2007, S. 21.
  3. Steinaecker, Thomas von: Literarische Foto-Texte: zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld 2007, S. 229.
  4. Siehe hierzu Cheons Untersuchung, sowie Andeutungen bei Steinaecker (S.229ff.)
  5. Vgl. Boehm, Gottfried: „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“ In: Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst - Kunstbeschreiben. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München, 1995, S. 23-40.
  6. Vgl. Bosse, Ulrike: Alexander Kluge. Formen literarischer Darstellung von Geschichte. Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1989.
  7. Vgl. BOSSE 1989 (wie Anm. 6).
  8. Roberts, Pam: Das Antlitz der Erinnerung. München 2000, S. 68
  9. Talbot, William Henry Fox: „Der Zeichenstift der Natur“ In: Wiegand, Wilfried (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bemerkungen zu einer neuen Kunst. Frankfurt am Main 1981, S.45.
  10. Debray, Régis: Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland. Rodenbach 1999, S. 281.
  11. Vgl. die Ausführungen zur Digitalphotographie in Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden? Berlin 2008, S. 26f, S.42f.
  12. Vgl. Panofsky, Erwin: „Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“. In: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 2002, S. 36-67, hier S. 38f.
  13. Brandt, Reinhard: „Bilderfahrung - Von der Wahrnehmung zum Bild“. In: Maar, Christa/Burda, Hubert: ICONIC TURN - Die neue Macht der Bilder. Köln 2004, S. 44-54, hier S. 44.
  14. Barthes, Roland: „Die Fotografie als Botschaft“. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main 1990, S. 11-27, hier S. 12.
  15. Ebd., S.13
  16. Ebd., S.14.
  17. Ebd., S.16.
  18. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 1989, S. 86.
  19. Vgl. ebd., S.90.
  20. Barthes, Roland: „Rhetorik des Bildes“. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main 1990, S . 28-46, hier S. 34.
  21. Ebd.
  22. Boehm, Gottfried: „Die Wiederkehr der Bilder“. In: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild?. München 2006, S. 11-38, hier S. 28.
  23. Ebd., S. 29.
  24. Ebd.
  25. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Bd. I. Amsterdam und Dresden 1998, S.  56.
  26. BARTHES 1990, S. 34.
  27. Ebd.
  28. Rutschky, Michael: „Foto mit Unterschrift. Über ein unsichtbares Genre“ In: Volk, Andreas (Hg.): Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Zürich 1996, S. 117-133, hier S. 122.
  29. BARTHES 1990, S. 35.
  30. Ebd., S. 35f.
  31. Vgl. Lehmann, Albrecht: „Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft“. In: Wette, Wolfram und Ueberschär, Gerd R.: Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht. Frankfurt am Main 1992, S. 178-189.

1 Kommentare

  1. Sehr interessanter Artikel. Spricht das Bild für sich selber? Welche Bedeutung und Wichtigkeit hat der Kommentar? Das komplexe Wechselspiel von Bild und Bildunterschrift wird in erhellender Weise hinterfragt.
    In meinem Fach - der medizinischen Bildgebung - werden die Begriffe etwas anders gebraucht. Man erkennt, dass diese Thematik aber sehr verschiedenen Fachgebiete übergreift.

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