allerArt, Kritik
Kommentare 1

Buchstabenwolken

Die Kunstgeschichte kennt verschiedene Methoden, an ein Werk heranzutreten: Die Ikonographie und Ikonologie, die Stilgeschichte oder die Form- und Strukturanalyse. Daneben gibt es eine Vielzahl von verschiedenen Fragestellungen, mit denen man sich einem Kunstwerk nähern kann: Form und Kontext, Rezeptionsästhetik, Biographie des Künstlers oder Semiotik können zu Rate gezogen werden. Letztere ist ein aus der Sprachwissenschaft stammendes, abstraktes Denkmodell, welches jedes Kunstwerk als Zeichenstruktur begreift, die es zu lesen und zu entschlüsseln gilt. Die Anordnung einzelner Teile eines Kunstwerkes können als dessen Grammatik verstanden werden, die dekorative Funktion als Stilistik und die Überzeugungskraft als Rhetorik (Arie Jan Gelderblom 1995). Jedes Zeichen, so auch jeder Text und jedes Bild oder Kunstwerk, stellt ein autonomes Bedeutungsgefüge dar und besitzt Überzeugungskraft, die beispielsweise auf Werbeplakaten zum Ausdruck kommt. Der New Yorker Künstler Ebon Heath will mit seinen Buchstaben-Mobiles die visuelle Macht der Worte veranschaulichen.

Typographisches Ballett

Der aus Brooklyn stammende Künstler und Grafikdesigner nennt sein Projekt „Stereo.type: a typographical ballet“. Bei dem typographischen Ballett handelt es sich um weiße Buchstaben aus Pappe oder Plastik, die wie bei einem Mobile mittels Nylonfäden miteinander verbunden und installiert werden. Als Heath 1999 mit seinem Buchstabenprojekt begann, schnitt er noch jeden einzelnen Buchstaben von Hand aus, doch seit etwa drei Jahren erledigt ein Laser diese Arbeit ― die Menge an Buchstaben wurde unüberschaubar. Er wählt die Buchstaben und Worte nicht willkürlich aus, sondern legt seinen Kunstwerken immer einen bestimmten Text zugrunde. Dies kann beispielsweise ein Lied, ein Gedicht oder auch ein Werbespruch sein. Ein Teil von Heaths Arbeiten wurde erstmals im Jahr 2008 in der Londoner Carte Blanche Gallery ausgestellt, im September 2009 in der Berliner Lucas Carrieri Galerie und im Mai 2009 waren einige seiner Installationen auf der Internationalen Designkonferenz „TYPO“, ebenfalls in Berlin, zu sehen.

Abb. 1 Wir lesen von Links nach Rechts, doch damit kommt man hier nicht weiter: Die Buchstaben in „Sacred Words“ winden sich in einer Spirale.

Befreiung der Worte

In einer Kritik der Londoner Ausstellung hieß es: „Stereo.type explodes the written word.“ Genau das passiert. Heath löst die Wörter und Buchstaben vom Trägermedium Papier, installiert sie im Raum, wodurch sie wie eine Buchstaben-Explosion dreidimensional erfahrbar werden. In einem Interview mit der ZEIT im Februar 2009 erklärte Heath: „Ich befreie Worte vom Papier.“ Der Betrachter sieht einen sich bewegenden und sich verändernden Text im Raum schweben. Die Buchstaben werden lebendig und führen ein Eigenleben, sie werden fassbar und existieren nicht mehr nur auf einem flachen Blatt Papier. Heath stellt eine Beziehung zwischen dem System der Typographie und dem der körperlichen Bewegungen her. Er sagt, dass er Wörter und Buchstaben visuell vor sich sehe, und auf dieser Grundlage entscheide, welche Form er einer Skulptur geben oder welche Größe ein Buchstabe haben soll. Liest er beispielsweise ein Gedicht, fügen sich vor seinem inneren Auge die Buchstaben und Wörter zu einer bestimmten Form zusammen. Er empfindet darüber hinaus bei Wörtern unterschiedliche Konnotationen. Seine Erfahrungen setzt Heath in den Mobiles um, so dass die einzelnen Buchstaben und Wörter visuelle Bedeutung und damit auch eine visuelle Ausdruckskraft bekommen, die sie vorher nicht besaßen.

Schwebt das Mobile in der Luft, sind einzelne Wörter und Zusammenhänge zu erkennen und auf Abbildungen oder Projektionen offenbart sich der zugrunde liegende Text. Doch tatsächlich lesen kann man die typographischen Skulpturen nicht. Das Objekt lässt sich nun jedoch erfühlen: Während bei einem gedruckten Text nur die Papieroberfläche berührt werden kann, könnten bei den dreidimensionalen Installationen auch die einzelnen Buchstaben haptisch erfasst werden. Jedem Mobile liegt eine geometrische Form zugrunde, die das Aussehen der Skulptur definiert. Bei manchen Werken fühlt der Betrachter sich, als stehe er vor einer Buchstabenwolke. Einige Skulpturen wurden um eine Lampe oder einen Kronleuchter herum angeordnet, so dass die Schatten der Buchstaben an die Wände projiziert werden. Dies ist beispielsweise bei „Sacred Words“ der Fall (Abb. 1). Heath verwendete hier Auszüge bedeutender religiöser Texte verschiedener Sprachen und arrangierte sie spiralförmig zueinander. Das Werk beinhaltet Teile des Daodejings des chinesischen Philosophen Laozi, einige Kapitel aus Gutenbergs Bibel in Frakturschrift, Teile des Koran auf Arabisch, Zitate aus der Thora auf Hebräisch sowie einige Passagen der Bhagavad Gita auf Hindi. In dieser Installation vereint Heath nicht nur verschiedene religiöse Weltanschauungen miteinander, sondern auch unterschiedliche Sprachen, die nun ein Ganzes bilden.

„Die Differenzen zwischen unterschiedlichen religiösen Ansichten verschwinden in der gemeinsamen Einheit unserer verschiedenen Sprachen.“ (Ebon Heath)

Abb 2. Die Buchstaben drängen auseinander, explodieren und zerstäuben in einer Buchstabenwolke.

Greifbar

Wenn die Semiotik ein Kunstwerk als Text begreift, was passiert dann mit einem Kunstwerk, das an sich schon ein Text ist? Wird ein Kunstwerk semiotisch analysiert, müssen zuerst die drei Aspekte eines Zeichens nach der Zeichentheorie von Charles Peirce (1839-1914) benannt werden. Er unterscheidet zwischen dem Zeichen, dem Denotatum und der Reaktion des Empfängers. Bei Heaths Werken stellen die ausgeschnittenen Buchstaben das Zeichen dar, während die einzelnen Buchstaben auf den ursprünglichen Text auf dem Papier sowie auf den zugrunde liegenden Sinn verweisen und damit das Denotatum bilden. Bei Heaths Buchstabenmobiles verweisen die fliegenden Buchstaben auf ihre zweidimensionalen Artgenossen. Der Unterschied zu diesen ist, dass sie einen greifbaren Körper haben und beweglich sind, während letztere auf dem Papier erstarrt sind. Die Skulptur als Ganzes stellt ein Symbol dar, denn sie verweist auf das Lesen und die Welt der Worte. Durch die Loslösung der Buchstaben von der Fläche werden Aspekte offenbart, die durch die Verbannung in die Zweidimensionalität verloren waren: „Indem der Betrachter dazu gezwungen wird, sich die Form der Buchstaben, die später zu Wörtern werden, anzusehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie wertzuschätzen, möchte ich die Ausdruckskraft der Buchstaben verstärken.“ Ein Text, so Heath, kann erst dann tatsächlich begriffen werden, wenn man ihn greifbar vor Augen hat, der Betrachter in den Text hinein oder um ihn herumgehen kann, die Buchstaben wörtlich im Raum umherfliegen. Manche seiner Skulpturen sehen in der Tat aus, als hätten sie Flügel bekommen, als würden sie zum Empfänger hin- oder vor ihm davonfliegen.

Heath spielt geschickt mit den unterschiedlichen Medien Raum und Fläche, überführt das eine in das andere und erzeugt so einen Dialog zwischen beidem. Die Mobiles vollführen einen Tanz sowohl zwischen Form und Funktion von Sprache, als auch zwischen Ausdruck und Inhalt. „Es ist, als ob die Worte, sobald wir sie ausgesprochen haben, lebendig werden und ein Eigenleben führen… sie können springen, schreien und tanzen.“

1 Kommentare

  1. Barbara Rüster sagt

    Ich bin beeindruckt von Katharina Markgrafs kluger Analyse - für mich die Möglichkeit mit Heath‘ Imagination in den Himmel zu schweben, das Nichtbegreifbare der menschlichen Existenz als Abenteuer, Weltreise begreifen zu lernen und gleichzeitig mit Sinnenlust das faszinierend Flüchtige als Schönheit zu erleben! Danke - Barbara Rüster

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *